Der Knabe Hüssein (texte intégral)

De BoyWiki
Version datée du 1 décembre 2019 à 16:38 par Calame (discussion | contributions) (m)
(diff) ← Version précédente | Voir la version actuelle (diff) | Version suivante → (diff)

Texte intégral en allemand de la « nouvelle turque » d’Armin Theophil Wegner Der Knabe Hüssein.

Comme la plupart des textes allemands de cette époque, l’édition originale de 1921 était composée en caractères gothiques de type Fraktur.





Der Knabe Hüssein





Zwei Tage nach der Schlacht von Lüle Burgas fanden flüchtende Soldaten in einem verlassenen Bauerndorf, dessen Minarett den verstümmelten Finger über der Steppe erhob, einen elfjährigen, türkischen Knaben. Seine blaue Sackhose reichte bis zu den Fersen, unter der roten Filzkappe wanderten die lang geschnittenen Augen in starrem Entsetzen. Vor ihm, in der Mitte des Hofes, hing, an einen Baum gefesselt, die Leiche eines Bauern. Zu seinen Füßen stand ein Kalb und leckte mit schlürfendem Geräusch das Blut, das aus der zerschlagenen Stirn auf die Erde tropfte.

Das Dorf brannte. Aus den hölzernen Wänden fuhren Flammen und schlugen wie flatternde Segel in der Luft. Die Soldaten fingen einen Esel, setzten den Knaben darauf; sie trieben ihn die Heerstraße entlang, die von Regengüssen aufgeweicht, von den Hufen der Maultiere zerstampft war. Die kaiserliche Armee befand sich in völliger Auflösung. Verlassene Geschütze mit durchschnittenen Zugriemen steckten im Schlamm; die Soldaten, die sich seit drei Wochen von verschimmeltem Brot nährten, durchrannten in zügellosem Laufe die Dörfer, deren Wege sie mit zerbrochenen Wagen, mit Munition und dem Gepäck der Offiziere besäten. Verhungerte, Verwundete, Fieberkranke lagen zu den Seiten der Straße. „Wie sie schlafen“, dachte der Knabe und blickte auf ihre Leiber, die in den Schmutz gestreckt lagen. Hartes Donnern erscholl. Er hob den Kopf, als suchte er das Gewitter; aber die Luft war von eisiger Klarheit. Dunkle Wolken flüchteten vorüber wie Züge schnarrender Vögel.

So kamen sie in das Lager von Tschataldscha. Ein Offizier trat an ihn heran, um nach seinem Namen zu fragen; aber der Knabe, von Angst und Müdigkeit gequält, begann zu weinen. Da zählten sie die Reihe der großen Propheten auf, und als sie den Namen Hüsseins nannten, neigte er den Kopf beiseite. Hüssein blieb bei den Soldaten. Er fütterte die Tragtiere, trug Holz an das Lagerfeuer und nährte sich von den Brocken, die sie ihm zuwarfen. Als im Frühling das Gras der Steppe einen süßen Geruch ausströmte, kam er nach Stambul. Die Soldaten, die in ihre Dörfer zurückkehrten, nahmen Abschied von ihm.

Zwanzig Monate blieb Hüssein in Stambul. Er wohnte bei den jungen Rekruten der Taximkaserne, hinter dem Stadtteil „Fürstensohn“. Mit den Stiefelputzern lief er durch das graue Gebirge der Straßen, seine Taschen waren mit Kieselsteinen gefüllt, er trug eine kleine Schleuder aus Schuhriemen am Gürtel und jagte die Tauben vom Brunnenrand, die Aprikosen von den Bäumen herab. Mit Obsthändlern und Zeitungsverkäufern irrte er durch die große Öde der Stadt, in der die Menschen, eng wie das Vieh in seinen Ställen, wohnten, und auch seine Stimme rief auf den Plätzen: „Kauft den Morgen! Das schwarze Auge!“ Hinter der Kaserne befand sich ein Friedhof, auf den der Mist der Pferde hinausgetragen wurde. Aus dem Schatten der Bäume klang das Geflüster der Soldaten, die sich mit einem griechischen Mädchen vergnügten. Träumend schaute Hüssein über die schwarze Wand der Zypressen auf das Meer. Büffel weideten zwischen den Gräbern.

Eines Morgens kehrten die Soldaten aus Anatolien zurück. Sie kamen in ihren bunten Hosen, mit nackten Knien, mit ihren erdigen Kleidern, in denen noch der Duft der gemahlenen Gerste und der herbe Geruch des Windes hing. Es waren die alten Gesichter, die den Rest ihres verschimmelten Brotes mit ihm geteilt hatten, hart und verwittert wie das Leder eines ausgewaschenen Ziegenschlauches. Ihre Bündel waren mit Reis, Käse und Oliven gefüllt, sie faßten ihn an der Schulter und riefen:

„Gott zum Gruß, kleiner Bruder“.

Ein schwarzes Tier, lehnte der Dampfer an der Mauer des Goldenen Horns. Von der Höhe des Decks griffen Krane und Winden in die bewegte Menge, die ihn seit stunden umdrängte. Die eisernen Zungen der Ketten leckten klirrend über die aufgehäuften Stapel an der Schiffswand herab, deren gefräßiger Bauch sich mit dem Summen Tausender von Soldaten füllte. Hüssein kroch durch die finsteren Gänge der Kajüten, über die schlafenden Leiber, die zusammengerollt am Boden lagen, brachte ihnen Wasser, eine Zigarette, und er war so leicht, daß sie seinen Körper nicht fühlten, wenn er im Dunkel über sie hinwegstieg. Das Schiff rauschte mit abgeblendeten Lichtern durch die Nacht. Aus der großen Stille schwankten Sterne durch das Takelwerk des Dampfers.

Weiß flammte der Rücken der Halbinsel in der Frühe des Morgens auf, als Hüssein aus seinen Kleidern den Dung der Büffel schüttelte, auf dem er geschlafen hatte. Ihn fror. Noch immer trug er die Sackhose, in der sie ihn auf dem Hofe seines Vaters fanden, aber sie war grau und mit bunten Flicken besetzt. Die rote Filzkappe mit ihrer abgerissenen Troddel hatten Schmutz und Regen geschwärzt, und der kleine Stumpf der Quaste zitterte auf seinem Kopf wie das abgehauene Schwänzchen einer Katze. Er schwankte, als er an Land ging; denn ihm war übel; er spuckte aus und erbrach sich. Hinter den Bergen schlugen Geschütze an, Wasserstrudel hoben sich aus der Bucht, fielen in sich zusammen. Aber es erschreckte ihn nicht. Der dumpfe Donner, den er einen Winter lang in den Gräben von Tschataldscha gehört hatte, klang ihm vertraut wie einst die Stimme der Mutter, die nach dem Brunnen ging, oder das Klappern des Getreideschlittens, mit dem sein Vater über den Hof fuhr. Doch diese Erinnerung war ein finsteres Zimmer, in das er hineinlief, ohne wieder herauszufinden. Er öffnete den Mund und atmete mit vollen Lungen.

Vom Abhang der Hügel hob sich das spitze Zelt des Kommandanten. Das kleine Lager, das sie die „Bucht des weißen Kopfes“ nannten, lag, vor den feindlichen Schiffen verborgen, in der Tiefe der Schlucht. Die schwarzen Küstenfahrer schütteten ihren Hausrat, Säcke voll Reis und Getreide über das Ufer, vor deren aufgetürmten Mauern die Kamele, eine Reihe folgsamer Schulknaben, knieten. Hüssein kletterte über das Gebirge der Kisten, stieß mit dem Fuß nach einem Hunde, der im Sande schlief, und trat in die Küche der Offiziere. Er half dem Koch die Teller reinigen, holte Wasser aus der Quelle, und sie gaben ihm die Reste, die von der Mahlzeit kamen. So blieb Hüssein im Zelte des Kommandanten.

Ali Reschad Bey war ein junger arabischer Hauptmann, unter dessen verwitterter Lammfellmütze schwarzseidene Haare glänzten. Seine buschigen Brauen verbargen zwei heiße Augen, die voll Unruhe über die Gesichter der Menschen glitten, ein fremdes Tier im Gesträuch, immer bereit, sich im Sprung auf ein unbekanntes Geschehen zu stürzen. Um seinen weichen Mund lag ein wehmütiger Zug; denn der Skorbut hatte ihm im Hedschas die Zähne zerfressen. Hüssein bediente den Kommandanten, trug die Stiefel an das Bett, das im Hintergrunde des Zeltes stand und zum Schutz vor den Fliegen mit einem weißen Laken umhüllt war. Sobald Ali Reschad die Augen aufschlug, rief er seinen Namen. Lautlos erschien der Knabe in der Öffnung der Zeltwand. Er deckte den Tisch, an dem sie zu fünf aus ein Schüssel aßen. In der Mitte saß Reschad Bey, an seiner Seite die Polizeioffiziere; Hüssein trug das Gericht auf, weiße Bohnen in Fett gebacken, mit Fleisch gefüllte Gurken, gebratene Eierfrüchte. Sie tauchten ihre Löffel in den Topf, während auf dem weiten Wege vom Eßnapf zum Munde die Suppe über den Rand zu Boden tropfte. Fünf gelbe Straßen bildeten sich auf dem weißen Tischtuch, allmählich wurde es ein bunter Stern, in dessen eingetrockneten Strahlen die Gerichte der Woche ihre grünen und roten Spuren zurückließen. Dann lief Hüssein mit dem Tuch an den Strand hinunter, um es im Meere zu waschen.

Ali Reschad saß auf der Düne unter einer Laube von Kiefernzweigen und hielt Gericht ab. Die Polizeioffiziere schrieben in ihren Akten. Vor ihnen standen in langer Reihe die verhafteten Soldaten der Arbeiterbataillone, Juden, Armenier und Griechen, die vor Furcht zitternden Hände in den schmutzigen Gürteln vergraben.

Die Verurteilten traten vor, um ihre Pantoffeln auszuziehen, ließen sich in ihren staubigen Sackhosen auf die Erde nieder und streckten die Füße durch einen Tragriemen des Gewehrs, das von zwei Gendarmen gehalten wurde.

„Wieviel?“

„Zwanzig Schläge!“ sagte der Hauptmann.

Der Polizeioffizier ergriff den Knüppel, um auf die Sohlen zu schlagen, die nackt und von Staub geschwärzt waren oder in schweißigen Strümpfen steckten, durch deren Löcher das Fleisch hervorsah.

„Mein Herr, das tut weh!“ rief der Verurteilte und weinte.

Der Polizeioffizier schlug von neuem, indem er auf die Mitte der Sohlen zielte.

„Gnade! Gnade!… Erbarmen!“

Der Soldat, dessen Stimme laut wurde wie der Schrei eines Tieres, krümmte sich auf der Erde.

Die Sonne stand heiß auf dem Platz. Hüssein blickte verächtlich beiseite. Der Kommandant winkte ihm, sie traten in das Zelt. Ali Reschad war ein frommer Mann, dessen Leben sich zwischen den fünf Geberzeiten des Tages bewegte wie zwischen fünf Gerichten, die seine Seele speisten. Eine tiefe Demut vor der Gewalt Gottes erfüllte ihn, vor dem selbst die Schatten der Dinge niederknieten und sich in den Sand warfen. Sobald Ali Reschad aus dem Schlaf erwachte, richtete er sich in seinem Bette auf, um die vorgeschriebenen Worte zu sprechen. Wenn er sich schlafen legte, breitete er das Bett in der Gebetsrichtung und schlief auf der rechten Seite, wie der Tote in seinem Grabe ruht. Das Testament lag zusammengefaltet unter seinem Haupte. Dreimal am Tage ließ er sich Wasser in das Zelt tragen, um die heiligen Waschungen vorzunehmen. Sorgfältig wusch er sich die Füße, reinigte mit dem linken kleinen Finger die Zehen, indem er mit der rechten Zehe begann, mit der linken aufhörte, und wenn er den Abort betrat, achtete er darauf, daß ex nichts Geschriebenes in der Tasche trug und sprach beim Hineingehen: „Im Namen Allahs! Ich nehme meine Zuflucht zu Gott vor dem Schmutz, der Unreinheit, dem Abscheulichen, dem gesteinigten Satan!“

Hüssein breitete den Teppich auf die Erde und kniete neben dem Hauptmann nieder. Ali Reschad lehrte ihn das Gebet, er zeigte ihm, wie man sich den Kopf wäscht, indem man die Fingerspitzen der rechten und linken Hand zu einer Haube aneinanderdrückt, um damit bis zum Nacken zu fahren, und wie man das Wasser an die vier Stellen bringt, an denen die Haare wachsen. Er lehrte ihn die neunundneunzig schönen Namen Gottes, wie man sich mit einem Stäbchen die Zähne reinigt, und daß dieses Gebet mehr wert ist als siebenzig Gebete, bei denen man sich nicht den Mund spült.

Hüssein erhob seine Arme, seine schlanken Hände krochen aus den schmutzigen Ärmeln der Bluse, er streckte die Finger aus, indem er mit dem Daumen die Ohrläppchen berührte, und sprach zum ersten Male die Worte:

„Gott ist groß!“

Dann faltete er die Arme über der Brust, legte die gespreizten Hände auf die Knie, verbeugte sich zehnmal hintereinander:

„Gepriesen sei Gott am Morgen und am Abend!“

Langsam richtete er sich auf. Seine mageren Arme sanken schlaff herab, es war heiß, der Schweiß rann ihm von den Schläfen, Ali Reschad hob die Filzmütze auf, die Hüssein vom Kopfe gefallen war, und fuhr ihm mit der Hand durch die Haare. Das Gesicht des Knaben war von Sonne gebräunt. Ali Reschad beugte sich und küßte ihn auf den Mund. Einen Augenblick sahen die dunklen Augen des Knaben ihn an, dann schlug er die Blicke nieder. Die feinen Flügel seiner gebogenen Nase zitterten leise.

Hüssein begann über die Halbinsel zu streifen.

Schmale Schluchten mit Steineichen und Dorngestrüpp zogen sich durch das hügelige Land, in dessen Tiefe die leeren Häuser einsamer Griechendörfer lagen. Eines Tages schenkte ihm ein Verwundeter eine alte Soldatenhose, er schnitt die Enden ab, band zwei Gamaschen um seine Beine. Unter den Trümmern der Kirche von Maidos fand er einen alten Kapalak, sein schmales Gesicht versank unter dem hohen Helm, den die Sonne gebleicht hatte. An den Wänden hingen Fetzen von verbranntem Menschenfleisch. Hüssein wandte die Toten beiseite, um ihre Gesichter zu betrachten; aber sie entsetzten ihn nicht, wie in jener Stunde, da er seinen Vater an einen Baum gefesselt sah. Drei Tage später entdeckte er in einer verlassenen Schlucht einen frischen Leichnam. Er knöpfte ihm die Brust auf, aber die steif gewordenen Arme wollten den Rock nicht hergeben, bis er dem Toten das Kleid über den Kopf riß. Das Futter fühlte sich kalt an, seine schmale Gestalt ertrank in den weiten Falten.

Als ihn die Arbeiter des Hafens in seiner neuen Uniform erblickten, riefen sie laut:

„Gott zum Gruße, Soldat!“

Der Knabe hob den Ärmel, aus dem die Spitzen seiner Finger hervorsahen, um ihn mühsam bis an die Stirn zu bringen:

„Möge Euer Morgen glücklich sein!“

Immer weiter irrte er mit durstenden Lippen über kahle Hochebenen, auf deren verhungertem Grasboden die Kamele der Proviantkolonnen weideten. Schwärme kleiner Heuschrecken erhoben ihren blutigen Schleier vor seinen Blicken. Das heisere Bellen türkischer Batterien ertönte dicht unter ihm. In stachligem Gebüsch verborgen, sah er mit keuchendem Atem in den Golf von Saros hinab. Das reglose Meer dehnte weit unter der Sonne seine blauen Wiesen. Hinter den Ufern erhob die seltsame Stadt der Schiffe ihre ehernen Mauern, eine Schar eiserner Inseln, und kleine Küstenboote, flache Schildkröten, mit den gelben Uniformen englischer Soldaten gefüllt, krochen zwischen den Schlachtschiffen umher.

Die Erde erbebte. Aus dem sumpfigen Schwemmland hoben sich Säulen von Sand und Steinen, rauschte ein Wald gelber Erdbäume empor, um vom Sturme geknickt, wieder zusammenzustürzen. Die Augen Husseins weiteten sich. Er hatte die Finger in den Sandboden gekrallt, sein Herz schlug in Erwartung hart gegen die Erde. Dumpfes Brüllen riß ihn zurück. Aus der Tiefe der Gräben hoben sich die heiseren Rufe der Soldaten und trugen den Namen Gottes an sein Ohr. Mit geballten Fäusten blickte er auf das zerwühlte Feld, bis die Dämmerung kalt über die Schluchten kroch. Nun begannen die Schiffe mit runden Augen zu funkeln, Laternen, bunt wie die Lampen der Moscheen, schaukelten sich im Netzwerk der Maste. Plötzlich traf ihn die Flamme eines Scheinwerfers in das Gesicht.

Es wurde Nacht, ehe Hüssein in das Lager zurückkehrte. Er war hungrig, und seine erdigen Kleider hingen voll Dornen.

„Wo warst du, Hüssein?“

Ali Reschad stand an der Tür des Zeltes. Der Knabe schlug die furchtsamen Augen zu Boden, seine Schläfen waren blaß vor Begierde und Erregung. Er lief in die Küche und stürzte sich auf das Essen.

Im Zelte des Hauptmanns brannte das Windlicht. Der Koran lag aufgeschlagen auf dem Tisch, die schwarzumränderten Nägel des Knaben irrten über das gelbe Papier, um die verschlungenen Buchstaben zu entziffern, deren ringelnde Schlangen sich vor seinen Augen bewegten. Hüssein las mit stolpernder Stimme, aber er verstand den Sinn der Worte nicht:

„Die Pochende, was ist die Pochende? Und was lehrt dich, was die Pochende ist? An dem Tage, da die Menschen sind wie die schwärmenden Motten und die Berge zerzupfte Wolle, wird der, dessen Gewichte schwer wiegen, in einem angenehmen Leben sein.“

Schmetterlinge mit gelben Beinen taumelten durch den Lichtkreis, ihre gläsernen Flügel fielen auf die Seiten des Buches. Hüssein blickte auf. Ali Reschad reichte ihm eine Zigarette, die er selber gedreht hatte, und Hüssein spitzte die Lippen, um den Rauch in die Flamme zu blasen. Seine rote Zunge leckte über den Rand der Lippen.

Ein Windstoß bewegte die offene Zelttür. Der Knabe horchte hinaus, die große Stille der Nacht lag auf dem Lager. Da begannen die türkischen Batterien von Fort Hamidie durch das Dunkel zu rufen, es antworteten ihnen die Batterien vom Sandschloß, vom Schlüssel des Meeres, von Ari Burnu und vom Vater Lala; unermüdliche treue Hunde, riefen sie durch die Nacht. Die Strahlen der Scheinwerfer glitten auf ihren weißen Füßen über das Meer und durchschnitten mit schmalen Messern das Dunkel.

In der kommenden Nacht war Hüssein verschwunden.

Ali Reschad saß vor dem Zelt, um auf seine Rückkehr zu warten. Der Wind blätterte in den Seiten des Koran, der aufgeschlagen auf dem Tisch lag und dessen Papier von den Händen Hüsseins an den Ecken verbogen war. Er lauschte in die Nacht, auf das leise Wirbeln des Sandes, der vom Strande herübertrieb. Der dumpfe Schritt der Wachtposten klang die Zeltgasse herauf.

Fern durch die schwarze Schlucht der Hügel schleppte sich ein Zug von Geschützen. Neben den keuchenden Stieren, denen das Joch knarrend gegen den Nacken stieß, schritt Hüssein, und wie auf den Feldern des Vaters schlug er mit der Rute auf ihre gespannten Schenkel:

„Vorwärts, mein Mekkapilger, meine alte Großmutter zieh!“

Die Soldaten an seiner Seite schritten schweigend dahin. Zuweilen griffen sie in die Speichen der Räder, die in dem aufgewühlten Sande zu versinken drohten. Im Finstern irrten sie durch ein verlassenes Dorf, dessen hölzerne Gitterfenster zerbrochen waren. Der Schatten eines Feigenbaumes bewegte sich an ihnen vorüber. Über der Leiche eines Pferdes funkelten die glühenden Augen wilder Hunde.

Dämmerung kroch fahl durch die rostigen Blätter der Steineichen, als sie in einer verlassenen Mulde hielten. Hüssein schlich durch den zerfallenen Gang, den der Nachtwind verweht hatte, über einen mit Wasser besprengten Platz, auf dem das Zelt eines Offiziers, sorgfältig an seine Pflöcke gebunden, schlief, bis in die Schützengräben der Soldaten, die ihre Zeltbahnen vor der aufgehenden Sonne über die Böschung spannten. Er suchte die alten Gesichter wieder, mit denen er auf dem Hof der Kasernen, auf dem Deck der Schiffe gelebt hatte; und er fand. sie im Graben knieend bei ihrem Morgengebet, vor einem Topf voll Reis, den sie in einer kleinen Erdgrube wärmten.

„Wunder Gottes! Wie geht es, mein Sohn?“

Er hockte neben ihnen auf den Fersen nieder, während sie ihm vor Freude auf die Schenkel schlugen. Die Feldwebel kamen, er schob die zerrissenen Sohlen seiner Sandalen zusammen, streckte die Finger aus dem weiten Ärmel an die Stirn und sagte:

„Bei meinem Kopfe!“

Hüssein kehrte nicht wieder in das Lager zurück. In einem Ziegenschlauche trug er den Soldaten Trinkwasser in den Graben und schleppte keuchend die mit Patronen gefüllten Kästen. Mit den Füßen eine Stufe in den Sand grabend, lehnte er sich über die Brüstung. In der Tiefe lag die Ebene von Ana-Forta, aus der drei zerbrochene Windmühlen die zerrissenen Segeltuchflügel zum Himmel streckten. Gelb ragte der Bauch des Vaters Lala in die Sonne.

Aber Hüssein hatte keine Waffe, und die Schleuder aus seiner Tasche ziehend, schnellte er einen Stein den Abhang hinunter; ein leichter Staubstreifen verflog in der Sonne. In einem Winkel des Grabens fand er einen Haufen alter Fleischbüchsen, die man mit Pulver und Eisenstücken gefüllt hatte. Die Soldaten banden eine Schnur daran und warfen sie über die Böschung. Eine Hand voll Sand spritzte auf, während die Büchse mit gellendem Lachen zerplatzte.

Ein arabischer Soldat an seiner Seite sank plötzlich um. Hüssein kroch unter dem Sterbenden hervor, dessen Mund sich schweigend öffnete und schloß. Er beugte sich über ihn, um aufmerksam die schwarzen Augensterne zu betrachten, die immer weiter wurden, wie man einem Menschen zusieht, der sich die Hände wäscht oder ein Stück Brot verzehrt.

Als es Nacht wurde, packte er drei Bomben in seine Tasche. Langsam schob er sich auf dem Bauche vor. Im grünen Schimmer des abnehmenden Mondes dehnte sich die Ebene hell wie die seidene Fahne des Propheten. Die dürren Halme vertrockneter Grasbüschel streiften sein Gesicht. In einem Granattrichter sah er einen schottischen Posten stehen, der schweigend zu ihm hinüberblickte. Eine Stunde lag Hüssein flach zwischen die stachligen Zweige eines Dornstrauches gebückt, bis der Schotte den Kopf wandte, die Büchse im Dunkel seiner Hand entglitt. Es wurde still. Mit klopfendem Herzen hörte er das Singen der Grasmücken im Sande. Langsam ließ er sich in die Grube fallen. Das warme Blut, das dem Halse des Toten entquoll, rann ihm über die Finger, während er im Dunkel seine Kleider durchsuchte.

Als Hüssein gegen Morgen in den Graben kam, waren seine Taschen mit Schokolade und englischen Goldstücken gefüllt. In seinem Bauchgurt klapperten die Patronen, in der blutigen Hand hielt er eine Browning-Pistole, die schwarz wie Schiefer erglänzte.

Vergeblich wartete Ali Reschad im Hafen auf seine Rückkehr. Jeden Abend, wenn das Lied der Gebetsrufer verstummt war, trat er an den Tisch seines Zeltes. Er schlug den Koran auf und begann die neunzigste Sure zu beten, bis er zu der Stelle kam: „Wahrlich, wir erschufen den Menschen zum Kummer.“ Da schaute er auf und blickte auf die graue Leinewand des Zeltes, die im heißen Wind erbebte. Dies war das enge Haus, in dem er gelebt hatte, sieben Jahre hindurch. Sieben Jahre hatte kein festes Dach über seinem Haupte gestanden, Kleider und Töpfe lagen auf der Erde umher, der Wind füllte seinen Koffer mit Sand. Immer schwebte das graue Tuch über seinen Augen, das sein Maultier durch die fiebernden Stürme des Yemen, die Regennächte der babylonischen Wüste geschleppt hatte, schlief er in diesem niederen Bett, das in seinen verrosteten Stäben im Sande quietschte, aus dem im Dunkel Tausendfüßler und Skorpione krochen. Eine tiefe Einsamkeit überkam ihn. Die weiche Sehnsucht nach Liebe, nach den wiegenden schritten Hüsseins, wenn er auf lautlosen Sohlen in sein Zelt trat. Ali Reschad ging in die Küche hinüber, um das Lager aus trocknen Feigenblättern zu betrachten, auf dem der Knabe zusammengerollt wie ein Hund im Winkel geschlafen hatte. Wieder sah ex sein schüchternes Gesicht vor sich, wenn er, den Rauch durch die Zähne blasend, die Lippen wie zum Kusse spitzte.

Eines Tages erzählte ihm ein Dolmetscher, man hätte Hüssein in den Gräben von Ana-Forta gesehen. Da sandte ihm Ali Reschad einen Boten. Eine schmerzliche Eifersucht quälte ihn, während seine Hände voll Unruhe den Rosenkranz durch die Finger gleiten ließen. Hüssein würde auf dem Lager der Soldaten schlafen, ja vielleicht teilten fremde Offiziere ihre Mahlzeit mit ihm und legten zärtlich den Arm um seinen Hals. In haltloser Erwartung blickte der Hauptmann die staubige Spur hinauf, die in den Schluchten der Hügel versank. Aber Hüssein kehrte nicht wieder.

Da nahm er ein Papier, schrieb mit roter Tinte in seinen kleinen krausen Buchstaben:


„Hauptmann Ali Reschad an Hüssein,
seinen kleinen Bruder!
Ali sendet Dir einen Gruß des Friedens. Er ist traurig, daß ihn sein Bruder verlassen hat. Du wirst das Feuer der Feinde vor Deinen Augen leuchten sehen, und ich bin stolz, daß Du tapfer bist; denn wer auch nur so lange kämpft, als das säugende Kamelfüllen aussetzt, um Atem zu holen, dem ist das Paradies erworben. Aber wisse, daß Gott diejenigen straft, die das Schicksal versuchen. Kehre bald in das Lager zurück! Ich habe eine neue Decke über Dein Bett gebreitet, und ein Beutel mit süßem Helwa ist gestern aus Stambul gekommen. Ich küsse Dich auf Deine beiden Augen.
Von Deinem Freund und Bruder
Ali Reschad.“

 

Als Hüssein den Brief erhalten hatte, ging er zu dem Hodscha des Regiments, der vor einem kleinen Kompaß in seiner Erdhöhle kniete, um die Richtung nach Mekka zu suchen. Er hörte mit geschlossenen Lippen die Worte an, die der Priester ihm vorlas, steckte den Brief in den Waffenrock und lief in den Graben zurück.

Täglich ging Hüssein auf Beute aus. Ein gelbes Wiesel, kroch er zwischen den Stachelzäunen hindurch, an denen die Fetzen zerrissener Uniformen wehten. Lautlos tauchte er über den feindlichen Stellungen auf. In finsteren Nächten, unter der weißen Sonne, von deren glühendem Atem die Erde erzitterte, fand er seine Opfer, englische Offiziere, die über eine Karte gebeugt saßen, Wasserträger, die im Dunkel zur Tränke gingen, indische Soldaten, die im Schatten einer Klippe träumten. Als er den Hals eines schlafenden Negers durchschnitt, öffnete der Sterbende mit ächzendem Geräusch die Lippen, aber Hüssein warf ihm Sand in den Mund, bis er erstickte. Hinter den Gräben hatte er seine Schätze in der Erde verscharrt, englische Feldstecher, Taschenmesser, goldene Achselstücke, Schuhwichse, den Rest einer französischen Fahne. Seine Taschen waren mit Süßigkeiten gefüllt, und im Schatten der Büsche auf dem Rücken liegend, rauchte er die Zigaretten erschlagener Soldaten.

Eines Morgens traf er in einer einsamen Schlucht vier australische Schützen, die das Gewehr nach den Hügeln gerichtet, an der Brüstung lehnten. Sie bewegten sich nicht. Ihre Gesichter starrten schwarz von Fliegen. Da erkannte er, daß sie tot waren, und hockte sich zwischen sie, deren Augen ihn ansahen, mit der Kälte von Fischen. Ihre Brust öffnend, durchsuchte er den kleinen ledernen Beutel, der von Schweiß verklebt war. Er fühlte ihre Nähe wie eine Gesellschaft fremdartiger Wesen, die ihm dienstbar waren und deren Sprache er verstand.

Die anatolischen Soldaten liebten ihn. Wenn sie von Hitze ermattet in ihren Gräben lagen, brachte er ihnen Tabak und Zigaretten. Schläfrig öffneten sie die Augen, und gossen, noch eben von Durst verzehrt, den Rest ihrer Feldflasche zu den heiligen Waschungen über die von Erde beschmutzten Füße. Hüssein stieg in die schmalen Gänge der Minengräber, und, auf dem Bauche kriechend, trug er die mit Pulver gefüllten Beutel bis an die Spitze der Stollen. Des Nachts schlief er an ihrer Seite in den engen Höhlungen, aus deren schmaler Öffnung der Lichtschein wie aus dem Munde der Backöfen glühte.

Im Dunkel erhob er sich. Die Sterne standen weiß über der Ebene. Als er den Graben verließ, rief eine Stimme aus dem Finstern ihn an. Auf dem Boden krümmte sich ein armenischer Soldat. Sie hatten ihn zur Strafe gefesselt vor die Brustwehr gelegt, weil er sich selber die Finger verstümmelt hatte.

„Deine Hand blutet, was hast du getan?“

„Ich habe ein Weib und zwei Kinder. Wir wohnten in Adabassar. Wir waren glücklich, und der Fluß strömte an unserem Hause vorbei.“

„Du bist feige!“

„Binde mich los“, bat der Soldat.

Eine Kugel strich scharf wie ein Windhauch an ihnen vorüber; aber Hüssein preßte die Lippen zusammen:

„Warte…“

Lautlos schlich er einer türkischen Patrouille nach, das Messer mit den Zähnen umklammernd. Aus den vertrockneten Blättern gähnte der feindliche Schacht, das dumpfe Ausschlagen eines Körpers tönte herauf. Sie reichten ihm ein Scherenfernrohr, die Teile eines Feldtelephons nach oben, um sie Hüssein auf den Rücken zu binden.

Geduldig schleppte er sich auf den Händen nach dem Graben zurück, vor dem noch immer der Armenier ruhte. Hüssein tastete nach seinen Knien, um die Fesseln zu lösen. Sein Leib war kalt.

Plötzlich schlugen die Trommeln an. Eine graue Spinne, kroch der Morgen am Himmel herauf. Die englischen Schlachtschiffe, roten Rauch aus den Nüstern blasend, hatten sich vor der Sulva-Bucht gesammelt. Der Rumpf eines Kohlendampfers trieb ohne Maste und Schlote, ein toter Fisch, an das Land, um eine Flut gelber Soldaten aus den Kiemen zu schütten. An das Ufer watend, verstrickten sich ihre Füße in den Drähten, die unter dem Wasser verborgen waren: ein Knäuel, der zuckend zusammenfiel. Die Sonne begann mit hundert kleinen Flämmchen auf dem Meere zu tanzen, das von den Mützen der Ertrunkenen bedeckt war. Vom Haupte des Vater Lala schrien die Batterien. In unabsehbaren Zügen krochen die Massen fremder Soldaten die Küste herauf. Unter den breitkrempigen Hüten glänzten die gebräunten Gesichter australischer Schützen, schwarze Schlangen von Armen ringelten sich aus den fahlen Gewändern der Sikhs, die fettigen Lippen der Neger funkelten breit über grünen Röcken. Aus dem Sande wuchs eine Stadt weißer Zelte empor, durch deren Falten das gebrochene Auge des Salzsees starrte.

In den dunklen Spalten der Berge harrten die Anatolier des Angriffs. Sie hatten die Tornister vor sich auf die Erde gelegt. Mit vor Erregung zerrissenem Gesicht kniete Hüssein in ihrer Mitte. Eine Granate schrie auf, heulend hinkte ein Kamel auf drei Beinen beiseite. Die Leiber der getöteten Maultiere dampften wie ein heißes Gericht. Unbeweglich saßen die Anatolier an ihrer Stelle, während der glühende Atem der Geschütze durch die sandigen Schluchten der Hügel fegte, durch die von Fieber erfüllten Zelte der Verwundeten, bis in die finsteren Höhlen der Soldaten, die zitternd an die Erde geschmiegt lagen und sich die Ohren mit Gras verstopften. Die klaren Lüfte rauschten. Das Meer siedete auf. Die Berge, von Beben erfüllt, schienen sich zu bewegen und zu tanzen. Ein ungeheurer Knall brüllte von der Küste herüber, als eine rauschende Wassergarbe wie die weiße Säule eines Tempels aus dem Deck eines Dampfers sprang. Das Schiff neigte sich, knirschte und brach auseinander.

In diesem Augenblick stürzten die dünnen Schützenzüge der Anatolier die Böschung hinab. Durch die gelben Schwaden der Gasgeschosse flatterten ihre Gestalten, kleine Rebhühner, die über die Ebene sprangen. In ihrer Mitte flammte der dunkle Mantel des Hodschas, das rotseidene Feldzeichen mit der kaiserlichen Tugra in der Hand. Mit aufgepflanztem Bajonett schrien sie in dem Sturm:

„Gott! Gott! Gott! Gott! Im Namen Gottes! Gott ist der Größte!“

Auf der braunen Stirn Hüsseins glänzte der Schweiß, als er atemlos hinter ihnen her stürzte. Flintenkugeln tropften schwer neben ihm in den Sand. Seine Füße stolperten über die Leiber der Gefallenen. Zuweilen blieb er stehen, um ihre Tornister zu durchsuchen; Seife, Tabakbeutel und Unterwäsche flatterten über den Boden. Er hatte ein Bajonett aus dem Gewehr gezogen, um es über sich in der Luft zu schwenken, und seine helle Knabenstimme schrie über den Acker:

„Gott! Gott! Gott ist der Größte!“

Plötzlich wandte er sich, eine Fahne im Wind, schlug mit dem Gesicht auf die Erde.

Im Süden von Ari-Burnu erreichten die Anatolier das Meer. Ein einsames Boot schaukelte über der Brandung, in dem vier Tote aufrecht saßen. Die Soldaten knieten nieder, berührten mit den Händen das Ufer und rissen die Sandalen von ihren Füßen, um die heiligen Waschungen zu beginnen.

Als die Nacht ihren schwarzen Atem sandte, trugen zwei Schützen Hüssein in einer Zeltbahn nach den Gräben hinauf. Schaum zitterte vor seinen Lippen. Die Anatolier ergriffen die Gefangenen, die sich im Schatten der Schlucht zusammendrängten, zogen ihnen das Messer mit gurgelndem Laut durch den Schlund und schnitten ihnen die Schuhe von den Füßen. Die blonden Leiber zwei englischer Knaben leuchteten durch das Dunkel, die sie in wollüstiger Umarmung auf die Erde geworfen hatten. Der Nachtwind kam aus der Ebene, eine tastende Hand, über die Glieder der vor Erschöpfung Entschlafenen zu fahren, mit dem süßen Geruch des Schweißes und der Verwesung aus den offenen Gräbern.

Als der Zug der Verwundeten sich dem Lager näherte, trat Ali Reschad aus seinem Zelte und ging den Wagen entgegen. Er zündete seine Laterne an, um die Karren abzuleuchten, bis er das Gesicht Hüsseins gefunden hatte. Fünfmal hatten sie durch seinen schmalen Körper geschossen wie durch ein dünnes Tuch. Er trug ihn nach dem Zelte hinüber, während der zerbrochene Leib in seinen Armen wimmerte. Am Schreiten küßte er ihn auf die schweißige Stirn:

„O Hüssein, mein Lämmchen, meine kleine Gazelle!“

Unter dem Dach der Kiefernlaube hatte Ali Reschad sein Feldbett aufgestellt. Er streute zerstoßenen Rübensamen in die Wunden, preßte Maulbeerblätter darauf und kniete an seiner Seite nieder:

„Im Namen deines Herrn, der dich erschaffen hat, der die Menschen aus einem Blutklümpchen gebar. Du läßt leben und sterben; ich bitte dich um alles Gute, von dem du Kenntnis hast. O Gott, verleihe dem, was du uns bestimmtest, einen guten Ausgang!“

Ali Reschad legte die ausgestreckten Finger auf die Stirn des Knaben, tastete mit der Hand über sein Gesicht, über die Brust, bis hinab zu den Fersen, Er legte die Finger in die offenen Wunden, um mit gespitzten Lippen über den blutenden Leib zu blasen, und wiederholte zum zweiten Male: „Im Namen deines Herrn, der dich erschaffen hat, der die Menschen aus einem Blutklümpchen gebar…“

Der Arzt kam. Vier Tage lag Hüssein in wildem Fieber. Sobald Ali Reschad die Zelttür öffnete, zog er die Schuhe von den Füßen, um mit lautlosen Schritten an das Lager zu treten. Aber in der fünften Nacht schlug der Kranke die Augen auf. Man hatte das Feldbett auf eine niedere Düne vor dem Lager gestellt, wo es die Nachtluft berührte.

„Was ist das?“

Schweigend blickte der Knabe über sich in den Himmel. Die weißen Augen der Sterne zitterten in der Luft.

„Es sind die Seelen der Toten, die im Kampfe fielen", sprach Ali Reschad.

Hüssein wandte den Kopf. Seine magere Hand deutete nach der Milchstraße.

„Das ist der Schützengraben von Gallipoli, den hat Gott zum ewigen Andenken über den Nachthimmel gezeichnet!"

Das schläfrige Rauschen der Brandung tönte vom Meere. Der Knabe schloß die Augen. Schwarzes Schweigen lag auf den Ufern. Unter dem offenen Hemd leuchtete sein Fleisch wie die zarte Brust einer Taube, und sein Atem seufzte, ein loses Blatt, das der Nachtwind bewegt. Der Hauptmann blickte auf die weiche Linie seiner Schultern, aus denen die schmalen Spangen der Schlüsselbeine sich hoben. Voll zärtlicher Bewegung über die vom Fieber gespannte Haut streichend, neigte ex sich durch den Schleier seiner heißen Augen und küßte ihn mit inbrünstigen Lippen auf die Brust.

Am Morgen wurde Hüssein auf dem Dampfer nach Tekir-Dagh gebracht. Die kleine Stadt stieg grau am Ufer empor. Durch die offenen Fenster des Lazarettes klang das Lachen der Wäscherinnen, Griechenmädchen trugen ihm Blumen an das Lager.

Nach vier Wochen begann er an zwei Krücken zu gehen. In seinem buntgemusterten Schlafmantel, die weiße Kappe auf dem Kopf, hüpfte er wie ein Floh durch die Reihe der Betten. Kaufleute und Kaffeewirte schenkten ihm Melonen und gezuckertes Sultansbrot, wenn er an den hellen Herbsttagen auf einer Matte am Strande lag, um den Rauch in die Sonne zu blasen. Der Ramasan kam. In den lauen Nächten stahl er sich zu den Märchenerzählern auf die Straße, die von den Maultrommeln der Schattenspieler erklang. Am Tage des Bairam schmückten die Wärter sein Bett, und Süßigkeiten lagen auf seiner Decke.

Ali Reschad besaß einen Freund in Tekir-Dagh, dessen Sohn das gleiche Alter hatte wie Hüssein. Die Farm seines Freundes lag am Tor der Steppe, seine Herden zählten dreihundert Schafe. Die beiden Knaben sollten am selben Tage beschnitten werden, während die Söhne von achtzig armen Familien der Stadt zu Gaste geladen waren, um auf seine Kosten die Weihe zu empfangen.

Man hatte die Halle mit Fahnen und bunten Teppichen behängt. In zwei langen Reihen waren auf einer Wiese die Betten aufgestellt, in denen die Knaben in ihren sauberen Hemden schliefen. Die Wege des Gartens waren mit Salz bestreut. Unter einer Laube von Weinranken und Feigenblättern lag auf einer Terrasse der Sohn des Hauses; aber das Bett Hüsseins bedeckte ein Mantel von blauer Seide.

Der Beschneider kam. Er breitete die Instrumente auf den Stuhl, das hölzerne Rohr und eine Büchse mit blutstillendem Pulver, während zwei Diener vor das Bett eine Decke hielten, über deren Rand hinweg Hüssein durch die zusammengebissenen Zähne lachte:

„Gott ist der Größte! Es gibt keinen Gott außer ihm!“

Der Beschneider wischte das Rasiermesser ab und legte das Häutchen auf die mit Sand gefüllte Schale. Die Frauen klatschten in ihre Hände, Kinder tanzten auf der Wiese und sangen:

„Schneide, o Schneidender,
Tue nicht weh dem Hüssein,
Gib acht auf das Rohr, o mein Liebling,
Gib acht auf das Rohr!“

Als es Abend wurde, brannten Laternen über allen Türen der Stadt. Hüssein wurde auf einem teppichbehängten Esel in die Moschee geführt, der Hodscha betete vor der Versammlung. Zwei bändergeschmückte Lämmer wurden vor dem Hause geschlachtet. Das Volk drängte auf die Wiese hinaus. Fechtkünstler und Gaukelspieler sammelten sich um die Laube, vor der zwei Lastträger, als Gendarmen verkleidet, ihre kupferne Glocke schwangen. Die Soldaten tanzten, rollten ihren Bauch und wackelten mit den Schenkeln. Mütter hoben ihre Kinder an das Gitter, um ihnen Hüsseins Bett zu zeigen:

„Das ist er, der so viele getötet hat.“

Die Frauen drängten ihr Gesicht voll Neugier zwischen die grünen Stäbe. Sie flüsterten hinter ihrem Schleier, während sie Makronen und gezuckerte Mandeln knackten:

„O mein Tiger, mein kleiner Löwe!“

Hüssein aber kaute an seinem Sultansbrot und blickte schläfrig aus seinem Bett auf die Menge der Zuschauer. Neben ihm stand der Tisch mit den Geschenken, auf dem zwei silberne Leuchter brannten und zwischen einem Tintenfaß und einer neuen Lammfellmütze, in grüne Seide gebunden, ein Gebetbuch lag, das ihm Ali Reschad geschenkt hatte.


Als Hüssein nach Gallipoli zurückkehrte, keuchte der Wintersturm über die Berge. Die See, in grauer Wut schäumend, machte einen Buckel wie eine Katze und sprang an das Ufer. Aus der Tiefe brannten die zerstörten Lager der Feinde, die die Halbinsel verlassen hatten. In den zerfallenen Erdhöhlen schrien die Ratten.

Hüssein stürmte über die Hügel, die Ebene hinab, durch das von Schrecken zerfleischte Land, das geduckt unter dem grauen Himmel lag, und mit gierigem Munde das Wasser schluckte. Mit dem Fuß in die Augen der Leichen tretend, die der Regen aus ihrem Schlaf gespült hatte, sprang er über verschüttete Gräben, deren Erde die Soldaten mit ihren Messern durchwühlten, um Fleischbüchsen, faulende Speckseiten heraufzuwerfen. Auf der Höhe blieb er stehen, und blickte mit zitternden Nasenflügeln auf das Ufer. Seine trotzige Knabenstirn hatte der Wind gerötet.

An diesem Tage wurde Hüssein vierzehn Jahre alt. Auf den Schulterklappen seiner Uniform, unter der sich die Glieder zu strecken begannen, trug er die Abzeichen des Unteroffiziers. Seine Mutter, die Erde, die ihn aus harter Wiege hob, hatte ihm eine braune Rinde geschenkt und Arme wie die starken Äste von Bäumen, seit die menschliche Mutter in dunkler Nacht unter flammenden Balken versank. Aber das Heer des Sultans hatte ihm tausend Väter gegeben, bärtige Männer mit dem Rost von Wunden, die Leiber von Jünglingen, in Sporenstiefeln, mit Pelzwerk und goldenen Schnüren, und verwitterte Greise mit der erdigen Haut von Tieren. Wenn der Frühling sein zartes Auge aufschlug, wollte Ali Reschad ihn auf die Militärschule nach Adrianopel senden. Alle Offiziere der Akademie würden sich in ihn verlieben. Ein feiner Flaum blühte auf seinen Lippen, hell wie die schmalen Wimpern, unter denen die Augen in schwarzem Verlangen schliefen. Sein Mund war reif und voll wie ein Frauenmund.



Retour à l’article principal Der Knabe Hüssein (Armin Theophil Wegner)
Der Knabe Hüssein
Texte intégral en allemand
Un garçon nommé Hussein
Traduction française

Source

  • Der Knabe Hüssein : türkische Novellen / Armin Wegner. – Dresden : Sibyllen-Verl., 1921. – 232 S. ; 19 cm.