Henry de Montherlant

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Henry [Marie Joseph Frédéric Expedite Millon] de Montherlant (* 20. April 1896 in Paris; † 21. September 1972 ebenda) war ein französischer Romancier, Dramatiker und Essayist.

Leben

Henry de Montherlant – dies war sein nom de plume, im bürgerlichen Leben benutzte er zeitlebens nur den Familiennamen Millon – wurde in eine wohlhabende, katholisch-royalistische Familie hineingeboren. Sein Vater verweigerte sich in bizarrer Weise Gegenwart und Fortschritt, spielte aber kaum eine Rolle. Wichtig waren für ihn nur Mutter und Großmutter, zu denen er ein inniges Verhältnis entwickelte. Seine Mutter ist begabt und aufgeschlossen; nach der Geburt ihres einzigen Kindes muß sie bis zu ihrem frühen Tod das Bett hüten. So wird ihr Sohn zu ihrem ganzen Lebensinhalt.

Montherlant hat Hauslehrer, tritt dann 1905 in die Sexta des lycée Janson-de-Sailly ein, wo J.-N. Faure-Biguet sein Freund wird. Beide wetteifern im Verfassen kleiner Geschichten, die er liebevoll illustriert und in Schönschrift in Schulhefte abschreibt, komplett mit Impressum, Copyright und Reklameseiten. Zeitlebens behielt er ein Interesse für die ästhetische wie wirtschaftliche Seite des Verlagswesens.

1907 bezieht die Familie einschließlich der Großeltern und von sechs Dienstboten ein großes Haus in Neuilly, nahe dem Bois de Boulogne, und Montherlant besucht die nächsten vier Jahre die kleine Privatschule Saint-Pierre de Neuilly. Sein Schulkamerad Louis Aragon erinnerte sich:

Und dann konnte ich [Guy i.e. Montherlant] auch zeigen, was ich geschrieben hatte, meine Verse. Und obwohl er zwölf Jahre alt war und ich mal gerade elf, hatte ich mehr gelesen als er, da staunte er und hat mich gar ein wenig bewundert obwohl er es komisch fand, daß ich über Jean-Jacques Rousseau sprach, während ich mich auf meine Erste Hl. Kommunion vorbereitete.

– Aragon, le Mentir-vrai, 37, zit. in Sipriot, I, 143, eigene Übersetzung

In diesen Jahren verliebte er sich leidenschaftlich in mehrere Mitschüler, berichtet Faure-Biguet. Dieser erinnert sich auch, daß Montherlant in seinem Zimmer nur Bilder von Kindern aufgehängt hatte. Auf einer Pilgerreise nach Lourdes entdeckt er in Bayonne noch eine Leidenschaft, den (noch sehr blutigen) Stierkampf.

Als ein neuerlicher Schulwechsel ansteht, folgt Montherlant zwei Mitschülern, in die er verliebt ist, im Januar 1911 auf das liberal-katholische collège Sainte-Croix de Neuilly; um ihn vor schlechten Einflüssen zu schützen, bekommt er gleichzeitig einen besonders reaktionären Jesuiten als Beichtvater. Es scheint, daß dieser seinen Freund Faure-Biguet, nun Jesuitenschüler, über das folgende auf dem laufenden hielt . . .

Immer sollte sich Montherlant an die folgende als die glücklichste Zeit seines Lebens erinnern. War seine alte Schule schon intim und familiär gewesen, so wies die neue einen geheimen Untergrund von verbotenen und – nach allem, was wir wissen – sehr sinnlichen Freundschaften auf. Er genießt das Leben in vollen Zügen; später würde er jeden Moment bedauern, den er damals mit Lernen verbrachte.

Im März 1912 wird Montherlant kurz vor dem Abitur der Schule verwiesen. Seinem Vater wird es nie mitgeteilt werden, seine Mutter und Großmutter waren aber in großen Zügen über sein Gefühlsleben auf dem laufenden. (Die Briefe an die Großmutter sind z.B. sehr offen.) Bis zu einem gewissen Punkt war solche Toleranz damals nicht ungewöhnlich, auch Julien Green erinnert sich z.B., daß man seine erste Leidenschaft durchaus wohlwollend betrachtete.

Nach dem Rausschmiß tat sich eine große Leere auf; Montherlant macht das Abitur, hält es nicht sehr lange beim Studium aus, bald sterben die Eltern, beginnt der Krieg, an dem er nur gegen Ende ein wenig teilnehmen kann.

Nach dem Krieg wandte er sich endgültig dem Schriftstellerberuf zu. Seine Themen waren zunächst Jugend, Krieg, Stierkampf. Von 1920 bis 1924 war er Generalsekretär des Soldatenfriedhofes von Douaumont. Ab 1925 lebte er auf Reisen in Spanien und Nordafrika, um in den dreißiger Jahren wieder nach Paris zurückzukehren. Er hatte seinen größten Erfolg mit der Romantetralogie Les jeunes filles (dt. Titel: Erbarmen mit den Frauen) (1936–1939).

1940 war er Kriegskorrespondent und von 1942 bis 1945 beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz tätig.

Nach dem Krieg wandte er sich dem Theater zu. 1960 wurde Montherlant in die Académie française gewählt. Seine Gesundheit begann sich zu verschlechtern; er nahm nun nach einer Pause von mehr als zwanzig Jahren die Arbeit an Romanen wieder auf und veröffentlichte unter anderem La rose de sable und Les garçons, die auf jahrzehntealte Vorarbeiten zurückgehen.

Les garçons

Les garçons, der Roman seines Lebens, beruht auf der Geschichte seines Rauswurfs aus Ste-Croix de Neuilly, und datiert in einem ersten Entwurf bis ins Jahr 1914. Der Herausgeber, Michel Raimond, unterscheidet vier Textschichten, von 1914, 1929 (dort abgedruckt S. 1377--1396), 1947, und 1965-1969. (Zuerst erscheint 1969 eine purgierte Fassung, Raimond gibt eine lesenswerte Liste der Kürzungen.)

Es hat Montherlant gereizt, diesen Stoff auch für das Theater zu bearbeiten, daraus wurde das Stück la ville dont le price est un enfant, das 1951 erscheint, aber lange Zeit nicht aufgeführt werden darf. 1967 wird es in Paris mit großem Erfolg vier Jahre lang gespielt. 1997 verfilmt Christophe Malavoy das Drama für das französische Fernsehen (dt. Titel: Die Stadt, deren König ein Kind ist) mit Naël Marandin und Clément van den Bergh in den Hauptrollen.

Der dramatische Konflikt ist auch die Kernzelle des Romans: eine intime Freundschaft zweier Schüler scheitert an der Eifersucht (oder Liebe, wenn man so will) eines Lehrers. Dies geschieht im Milieu einer katholischen Privatschule vor dem ersten Weltkrieg, und was auf der Bühne sehr konzentriert innerhalb von 36 Stunden abläuft, das wird im Roman zu einer zeitlich und thematisch ausgreifenden Handlung.

Die wichtigsten Erweiterungen sind die Ethnographie der im Roman protection genannten päderastischen Subkultur, die Beziehung zwischen dem Helden Alban de Bricoule (Montherlants alter ego) und seiner Mutter, die bis zum seinem Tode weitergeführte Geschichte des abbé de Pradts, des Gegenspielers der beiden Jungen, und die Romanze der Jungen, die mit Zurückhaltung im Detail dargestellt ist, aber doch einen ganz anderen Stellenwert hat, als im Drama.

Ils prirent un fiacre. Serge enleva sa casquette, mit ses pieds sur le petit strapontin de devant, et ainsi, à demi étendu, un peu recroquevillé, s'appuya sur Alban. Il était à sa gauche, et le bras de son camarade l'entourait et l'enserrait avec force, tandis qu'il s'installait à petits coups, inoubliablement . . . « Mon petit corps ! Mon petit corps ! » Mais quand Alban commença de le baiser au visage et dans le cheveux, il eut d'abord, surpris peut-être par la violence de ces baisers, peut-être par cette même obscurité qui enhardissait son partenaire, ou bien comme s'il ne voulait voir ce qui se passait, un réflexe de gosselot de neuf ans, tout frais en ces choses : cachant sa figure sur ses petit pattes tachées d'encre, tout de même qu'un boxeur se couvre, ou qu'un jeune chat croise ses pattes par-dessus la sienne, avec un fou rire, le petit rire saccadé, ininterrompu et bête, de quelqu'un qui est mal à l'aise. Et peu à peu, dans une absolu silence, les main levées s'abaissèrent et le rire cessa. Alors il s'étira, se poussa, s'encoigna, s'installa encore un peu plus, et Alban le serrait toujours davantage contre soi, remontant ses mèches, dénudant ce front imprévu, grattant le sommet de sa nuque, (mais quid de la célèbre bosse, révélatrice de lubricité infinie ? Rien, il faut le dire, rien . . .), découvrant un nouveau visage, qu'on ne connaissait pas, qui n'était qu'à lui seul, et qui les lumières de l'avenue tantôt éclairaient, tantôt rejetaient dans l'ombre. « J'aurai enfin vu tourné vers moi ce visage que je ne jamais vu tourné que vers ce qui n'est pas moi. » et c'était, pour l'un et pour l'autre, la première fois des gestes qu'ils allaient recommencer toute leur vie. Alban : Jamais je n'aurais cru que nous nous trouverions un jour dans cette situation. Serge : Moi non plus, jamais ! Et dire qu'il y a quinze jours, tu m'as dit que je te dégoûtais . . .

– Les garçons, Romans II, p.550

Aus der deutschen Übersetzung, p. 141f:

Sie nahmen einen Fiaker. Serge nahm seine Mütze ab, stellte die Füße vorn auf den kleinen Klappsitz, und so, halb ausgestreckt, ein bißchen zusammengekrümmt, lehnte er sich an Alban. Er saß links von ihm, und der Arm seines Kameraden umschlang ihn und zog ihn energisch an sich, während er es sich mit kleinen ruckartigen Bewegungen auf seinem Sitz bequem machte. Alban würden diese Bewegungen unvergeßlich bleiben . . . »Dieser kleine Körper! Dieser kleine Körper!«  Aber als Alban begann, ihn aufs Antlitz und ins Haar zu küssen, reagierte er zunächst – vielleicht überrascht über die Heftigkeit dieser Küsse, vielleicht auch gerade wegen dieser Dunkelheit, die seinen Partner kühn machte, oder vielleicht auch, weil er nicht sehen wollte, was geschah – wie ein kleiner Junge von neun Jahren, dem solche Dinge völlig neu sind: Er verbarg das Gesicht unter seinen kleinen tintenverschmierten Pfoten, wie ein Boxer sich deckt oder wie eine junge Katze ihre Pfoten übereinander kreuzt, und zwanghaft lachte er dabei dieses kleine abgehackte, ununterbrochene und dumme Lachen, das jemand hat, der sich unbehaglich fühlt. Aber allmählich wurde er immer stiller, die erhobenen Hände sanken herab und das Lachen endete. Dann räkelte er sich, drängte sich heftig an Alban, rutschte noch tiefer in seinen Sitz und macht es sich noch bequemer, und Alban zog ihn immer enger an sich, strich ihm die Haarsträhnen zurück und sah dabei zum ersten Mal seine Stirn, kraulte ihn im Nacken (aber fand er dort die berühmte Beule, die eine unendliche Lüsternheit verrät? Nichts, es muß gesagt werden, nichts . . .), entdeckte ein neues, ihm unbekanntes Gesicht, das ihm allein gehörte und das die Lichter der Avenue bald erhellten, bald ins Dunkel zurückwarfen. »Endlich werde ich dieses Gesicht mir zugewandt gesehen haben, dieses Gesicht, das ich immer nur etwas zugewandt sah, das nicht ich war.« Und für beide begann hier jener Ritus, den sie in ihrem ganzen Leben immer aufs neue zelebrieren sollten. Alban: »Ich hätte nie geglaubt, daß wir einmal so zusammen sein würden.«  Serge: »Ich auch nicht, nie! Und wenn man bedenkt, daß du vor vierzehn Tagen zu mir gesagt hast, ich ekle dich an . . .«

Der Roman endet mit dem Tod des abbé de Pradts, der zurückblickt und stirbt, während durch das geöffnete Fenster das Fußballspiel der Jungen dringt und während er auf eine Wand voller Jungenphotos blickt: auf jene, »die in seinem Leben einander abgelöst hatten – wie die Korkstücke ein Fischnetz an der Oberfläche des Meeres halten, so hatten sie ihn an der Oberfläche des Lebens gehalten«. (471)

Literatur

  • Pierre Sipriot: Montherlant sans masque. – Paris: Laffont. – Bd. 1. L'enfant prodigue: 1895–1932. (1982). Bd. 2. Écris avec ton sang: 1932–1972. (1990). Biographie. Register im 2. Bd.
  • Album Montherlant / iconographie réunie et commentée par Pierre Sipriot. – Paris: Gallimard, 1979. (Bibliothèque de la Pléiade)
  • Faure-Biguet, J.-N. (Jacques Napoléon): Les enfances de Montherlant. – Paris: Plon 1941; ²Paris: Lefebvre, 1948. Erinnerungen eines Jugendfreundes

Externe Links