Satyricon
Satyricon oder Satyrikon ist ein nur in Teilen erhaltener Roman von Titus Petronius Arbiter (* ca. 14, † 66 n. Chr.). Von den geschätzten 18 Büchern des Gesamtwerks sind lediglich drei (XIV-XVI) vollständig überliefert, daneben existieren einige Fragmente, die dem Satyricon zugeordnet werden. Der Umfang wird auf 500 bis 1000 unserer heutigen Druckseiten geschätzt. Das Werk gilt als Meilenstein antiker Dichtkunst, literarischer Bestseller seit der Renaissance und einzigartiges Zeugnis über Leben, Lust und Laster der römischen Gesellschaft zur Zeit des Kaisers Nero.
Titel
Der Titel Satyricon bzw. Satyricon libri ist seit den ältesten Zeugnissen (C. Marius Victorinus, † nach 363) und handschriftlichen Überlieferungen verbürgt. Der Sinn ist doppeldeutig: einerseits liegt ihm lat. satura als Genrebezeichnung für die römische Satire nach dem Vorbild des Horaz oder des Lucilius zugrunde, andererseits verweist er auf griech. Satyr. Satyren waren in der antiken Mythologie die struppigen, dickbäuchigen, wollüstigen Begleiter des Weingottes. Womöglich ist diese Doppeldeutigkeit vom Autor gewollt. Formal ist das Werk als Parodie seines Genres (Satire) begriffen worden, inhaltlich als Burleske, die in detailverliebter Drastik und zugleich mit kritischer Distanz den orgiastischen Lebensstil der tonangebenden Gesellschaftsschicht Roms beschreibt.[1] Ensprechend variieren die Titel deutscher Übersetzungen zwischen "Satyrgeschichten" und "Die große Satire". (Ludwig Gurlitt)
Inhalt
Kapitel 1-26
Ort der ersten Szene des erhaltenen Teils ist Puetoli (Unteritalien). Der fahrende Schüler Enkolpius disputiert mit seinem Lehrer Agamemnon über den Verfall der Redekunst, die in ihrer natürlichen Schönheit wie alle anderen Künste durch orientalische Einflüsse, Moden, Disziplinlosigkeit und Effekthascherei verdorben sei. Agamemnon entschuldigt die Lehrer und macht hierfür die Eltern verantwortlich. Mitten in der Unterhaltung bemerkt Enkolpius das Verschwinden seines Gefährten Askyltos und entwischt, als ein Schwarm neuer Schüler in den Park strömt. Nachdem er sich auf dem Weg zu seiner Herberge in ein Bordell verirrt, trifft er dort Askyltos wieder, der ihm weiszumachen versucht, er sei mit Geld und Tücke hierhergelockt worden. In der gemeinsamen Unterkunft klagt Giton, der Geliebte und Haussklave des Enkolpius, Askyltos habe sich an ihm vergangen. Es kommt zum Streit der beiden jungen Männer, schließlich zur Abmachung, sich zu trennen. Enkolpius verbringt eine Liebesnacht mit Giton, wobei er von Askyltos wiederholt gestört wird. In der folgenden Szene versuchen die beiden, einen gestohlenen Mantel auf dem Markt zu verkaufen. Sie begegnen einem Bauern, der eine den beiden verlorengegangene, zerschlissene Tunika trägt, das in den Falten eingenähte Geld aber offenbar noch nicht entdeckt hat. Es kommt zum Tauschgeschäft, in dessen Folge ein Tumult entsteht. Die Ware wird von Magistratspersonen konfisziert. Zurück in ihrer Behausung werden Enkolpius und Askyltos von Quartilla überrascht, die sich als Priesterin des Priap ausgibt und sie anklagt, ihre geheimen Kulthandlungen ausspioniert zu haben. Als Entsühnung müssen sie sich einer Reihe merkwürdiger sexueller Rituale und Torturen unterziehen, werden von zwei Kinäden drangsaliert und ergehen sich am Ende in einer Orgie, die in einem Liebesakt zwischen Quartilla und Enkolpius sowie zwischen Giton und einem siebenjährigen Mädchen endet.
Kapitel 26-78, Das Gastmahl des Trimalchio
Auf seinem Landsitz bei Cumae lädt Trimalchio, ein reichgewordener Freigelassener, zu einem Gastmahl, an dem Enkolpius, seine Kameraden, der Lehrer Agamemnon und eine unbestimmte Zahl weiterer Personen von Rang und Namen, Klienten und Emporkömmlinge teilnehmen. Die erste Begegnung mit dem »hochfeinen Herrn« ereignet sich auf einem Spielplatz, wo der kahlköpfige Trimalchio mit zwei kleinen gelockten Jungen Ball spielt. Er wird von zwei Kastraten assistiert, die ihm während des Spiels den Nachttopf unterhalten: Trimalchio ist inkontinent. Nach dem Bad erfolgt der Parademarsch zur Residenz, Trimalchio wird auf eine Sänfte gehoben, sein Liebling, ein schon bejahrter, häßlicher Knabe in einem Kinderwagen vorangefahren. Auf dem Weg durchs Portal, die Gänge und das Atrium zum Speisesaal begegnen Enkolpius allerhand Merkwürdigkeiten. Trimalchio selbst präsentiert sich als launischer und wichtigtuerischer Wohltäter: er läßt seine Gäste zunächst warten, treibt Schabernack mit dem Gesinde und versucht mit einstudierten Versen als kunstsinniger Mann von Welt zu beeindrucken. Dabei interpretiert er Kunstgegenstände höchst eigenwillig, verwechselt so ziemlich alle Figuren der Mythologie und stellt, während er mit seinem sagenhaften Reichtum prahlt, nur seine mangelhafte Orts- und Geschichtskenntnis zur Schau. Das besondere an diesem Gelage sind die exquisit zubereiteten Speisen: jeder Gang übertrifft den vorherigen in seiner speziellen Zubereitung und überraschenden Präsentation. So wird bspw. dem Koch die Schlachtung eines Zirkusschweins, das zur Belustigung der Gäste diente, befohlen. Als Minuten später ein Schwein auf einer Anrichte hereingeführt wird, spielt Trimalchio den Entrüsteten, verlangt die Bestrafung des Kochs, der angeblich die Ausweidung des Tiers vergessen habe, wird von den Gästen aber beschworen, Gnade walten zu lassen. Daraufhin gebietet Trimalchio großmütig, das Schwein vor den Augen der Gäste auszunehmen. Unter Applaus quellen Brat- und Blutwürste aus dem Tierleib. Tisch- und Zwiegespäche über Geschäfte in harten Zeiten, die öffentlichen Spiele und die Erziehung wechseln mit Klatschgeschichten, Ansprachen und Toasts auf den Gastgeber, dreisten Behauptungen und gegenseitigen Beschimpfungen. Mimen, Sänger, Tänzer und Jongleure sorgen für Unterhaltung, Trimalchio selbst imitiert einen syrischen Tanz, unterbrochen von einer Lesung des Rechnungsführers über Vorgänge auf seinen weitläufigen Gütern. Griechische Schauspieler stellen den trojanischen Krieg nach, Werwolf- und Hexengeschichten werden erzählt. Der Steinmetzmeister Habinnas, den Trimalchio mit dem Bau seines Grabmahls beauftragt hat, trifft ein. Seine Frau Scintilla und Fortunata, Trimalchios Gattin, führen sich gegenseitig den neuesten Modeschmuck vor, bevor sie betrunken und lüstern übereinander herfallen. Nachdem sich Fortunata über Trimalchio, der einen zur Dienerschaft gehörenden kleinen Knaben abküßt, entrüstet, zieht er seinerseits mit Schmähungen über sie her. Enkolpius, Askyltos und Giton versuchen sich schließlich der Gesellschaft des Lehrers Agamemnon zu entziehen, werden aber im Bade von einem Hausdiener an der Flucht gehindert. Sei werden noch Zeuge einer grotesken Scheinbestattung Trimalchios, bevor Feuerwehrleute, von den Hornbläsern in die Irre geführt, mit Gewalt in die Residenz eindringen, ein Aufruhr entsteht und die Flucht gelingt.
Kapitel 79-98
Nach ihrer Rückkehr in die Herberge ist Enkolpius derart betrunken, daß Askyltos die Situaion ausnuzt und Giton zu sich ins Bett holt. Nach einem Streit zwischen den beiden Studenten, während dem sich Giton theatralisch auf die Knie wirft, wird nun endgültig die Trennung und Teilung der Habe beschlossen. Der Junge soll entscheiden, mit wem er gehen möchte - er geht mit Askyltos. Enkolpius' Klage über den Verlust gipfelt in Beschimpfungen der beiden anderen, er beschließt sich umzubringen, wird aber auf der Straße von einem Zenturio seiner unrechtmäßigen Bewaffnung beraubt. Daraufhin begibt er sich in eine Gemäldegalerie, wo er über das Schicksal berühmter Liebespaare sinniert und Bekanntschaft mit Eumolpus macht, einem verwahrlosten Alten, der sich als genialer Dichter ausgibt. Der verwünscht den Geist der Epoche, der die schönen Künste und Wissenschaften so vernachlässigt habe und erzählt dem liebeskranken Enkolpius zum Trost die Geschichte des Knaben von Pergamon. Vor einem Bild, daß die Einnahme Trojas darstellt, besingt Eumolpos das Ereignis in Versen. Daraufhin wird er von anderen Besuchern mit Steinen beworfen und gibt der drängenden Bitte des Enkolpius nach, keine weiteren Verse zu machen. Beide speisen gemeinsam. Enkolpius trifft Giton wieder, der sich ihm an die Brust wirft und bittet, ihn in alter Freundschaft wieder aufzunehmen. Dabei weiß der Knabe die Vorwürfe, die Enkolpius ihm macht, geschickt umzudrehen. Beide versöhnen sich und schlafen miteinander, als um Mitternacht Eumolpus auftaucht und erzählt, wie er erst aus dem Theater, dann aus dem Bade wegen seiner Versrezitationen verjagt wurde und einem Mann begegnet sei, der laut nach einem gewissen Giton gerufen habe. Enkolpius versucht zunächst Gitons Identität zu verheimlichen, aber Eumolpus macht nun dem Jungen den Hof, worauf es zum Streit mit Enkolpius kommt. Dieser wird in einem günstigen Moment von Eumolpus allein in seiner Kammer eingesperrt und muß von Giton erneut am Selbstmord gehindert werden. Während der Szene tritt der Gastwirt mit Forderungen ein und wird von Eumolpus verprügelt. Schließlich kommt ein Amtsdiener im Auftrag des Askyltos auf der Suche nach Giton ins Haus, Giton verbirgt sich in der Manier des in der Zyklopenhöhle gefangenen Odysseus unter dem Bettgestell. Zusammen mit Eumpolus und einer angeheuerten Diener flüchten Enkolpius und Giton auf ein Schiff.
Kapitel 99-124
Ausgerechnet mit diesem Schiff begleitet Lichas, ein alter Feind des Enkolpius, seine Tryphäna in ihr Exil nach Tarent. Der Versuch, Giton und Enkolpius als gebranntmarkte Sklaven zu maskieren misslingt, sie werden erkannt. Nach einigen turbulenten Szenen kann Eumolpus Lichas und Tryphäna mit Enkolpius und Giton aussöhnen. Ein Friedensvertrag wird besiegelt und zur Erhaltung der guten Stimmung erzählt Eumpolpus die Geschichte der Witwe von Ephesos. Schließlich gerät das Schiff in einen Sturm. Lichas kommt in den Fluten um, Tryphäna kann sich samt ihrer Habe in einem Boot retten, der Rest erleidet Schiffbruch nahe der Stadt Kroton. Bauern klären die vier Gefährten darüber auf, daß Kroton als Stadt der Erbschleicher bekannt sei. Daraufhin faßt Eumolpos den Plan, sich als vermögenden, aber kranken und kinderlos-gebliebenen Mann auszugeben und Enkolpius, Giton und den Lohndiener als seine Sklaven. Er gibt ihnen genaue Instruktionen und deklamiert auf dem Fußmarsch in die Stadt ein Gedicht über den Bürgerkrieg.
Kapitel 125-141
Der vermeintlich reiche Eumolpus und seine Freunde leben in Kroton in Saus und Braus. Zum Leidwesen Gitons verliebt sich die schönste Frau der Stadt, Circe, in Enkolpius. Dessen immer noch andauerndes Leiden - Enkolpius ist durch einen Fluch Priaps impotent - ist aber für Circe eine schwere Beleidigung. Sie rät ihm zunächst, nicht mehr mit seinem "Brüderchen" Giton zu verkehren. Verschiedene magische Kuren werden angewandt, in deren Folge Peitschen, Eingeweideschau, Beschwörungsformeln, Zaubertränke und ein Riesendildo zum Einsatz kommen, Enkolpius sich - nach einer Zweisprache mit seinem unbotmäßigen Geschlecht - zu entmannen beschließt und ihm einige Mißgeschicke widerfahren, wie z.B. die Tötung einer dem Priapus geweihten heiligen Gans. Enkolpius hält die "Kur" der Hexe Oenothea nicht durch. Schließlich wird Enkolpius doch noch von seinem Leiden kuriert (auf welche Art, ist nicht überliefert). Am Ende der überlieferten Fragmente steht eine eigenwillige Auflage Eumolps für seine potentiellen Erben: Wer erben will, muss den Leichnam des Verstorbenen aufessen.
Historischer Kontext
Der Autor
Über Leben, Werk und Wirkung des Titus Petronius ist wenig bekannt, noch kann seine Identität eindeutig festgestellt werden. Publius Cornelius Tacitus porträtiert in seinen Annalen (16,18-19) einen Vetreter der römischen Aristokratie gleichen Namens (allerdings mit dem Pränomen C. für Gaius), der als Lebemann, Müßigganger und arbiter elegantiae (Schiedsrichter des guten Geschmacks) am Hofe Neros von sich reden machte. Trotz seines ausschweifenden Lebensstils soll er sich als energischer Prokonsul von Bithynien bewiesen und als Konsul bewährt haben. Ein mögliches Konsulat für Nov./Dez. 60 ist nicht sicher bezeugt.
Laut Tacitus geriet Petronius neben Seneca und anderen einflußreichen Senatoren in Verdacht, an einer Verschwörung gegen den Kaiser Nero beteiligt zu sein und wählte daraufhin den Freitod. Den Freitod inszenierte er wie ein natürliches Ereignis, indem er sich die Pulsadern öffnen und nach Gutdünken wieder abbinden ließ, während er bei leichter Unterhaltung mit Freunden tafelte.
Das Zeugnis des Tacitus machte den Autor mindestens ebenso legendär wie sein Satyricon. Der Schriftsteller Henryk Sienkiewitsch setzte Petronius in seinem nobelpreisgekrönten Roman Quo Vadis ein Denkmal.
Entstehungszeit
Hinweise im Text deuten auf eine Zeit zwischen 50 n.Chr. und 60 n.Chr. für die geschilderten Ereignisse.[2] Unter Kaiser Claudius (41 n.Chr. - 54 n.Chr.) vollzog sich ein beispielloser Aufstieg freigelassener Sklaven bis in die höchsten Ämter der Macht und Würden des Kaiserhofs. Einige der reichsten Männer Roms waren ehemalige Sklaven, deren großspuriges Auftreten, Bildungsdünkel und mangelnde Selbstkultur in der Figur des Trimalchio exemplarisch aufs Korn genommen wird.
Ist die Identität des Autors mit dem Petronius bei Tacitus letztendlich nicht gesichert, so steht doch zweifelsfrei fest, dass der Roman vor dem Jahr 200 entstanden sein muß. Der Verwendung einzelnder Bonmots bei Statius (†96) und Martial (†103) zufolge lag das Werk bereits am Ende des 1. Jhd. vor.
Poetologisches
Das Werk steht außerhalb der Tradition der klassischen römischen Satire, die sich durch die metrisch-gebundene Kurzform auszeichnet. Unter formalen Gesichtspunkten knüpft Satyricon an das Vorbild der Menippeischen Satire an, die ihren Ursprung in hellenistischer Zeit hat und von Varro im 1. Jh. v. Chr. in die lateinische Literatur eingeführt wird. Charakteristisch ist eine Vermischung von Prosa, Lyrik und metrisch gebundener Rede. Satyricon gilt als Höhepunkt dieser literarischen Gattung und als deren Erweiterung zur Romanform.[3] Gleich mehrere Qualitäten werden von der Literaturwissenschaft hervorgehoben:
- Realismus: Das pralle Leben seiner Zeit wird dargestellt, die Szenerie ist nicht auf die römische Nobilität beschränkt, detaillierte Ortsbeschreibungen und realhistorische Verweise kommen vor.
- Präzision der Darstellung: Personen werden durch Gesten, Reden und Handlungen skizzenhaft charakterisiert; ohne ausschweifende Psychologisierung gelingt so eine tiefblickende Darstellung der conditio humana.
- Virtuosität in Stil und Sprache: Die Reden der einzelnen Personen sind aufs genaueste den jeweiligen Sprechern und ihrer Situation angepasst. Durch den zeittypischen Gebrauch von Graecismen und vulgärsprachlichen Wendungen eignet sich der Roman als kulturhistorische Quelle.
- lyrischer Ausdruck: Schon Heinse bewunderte die Empfindungstiefe einzelner eingestreuter Gedichte, die einen eigenartigen Kontrast zum frivol-satirischen Grundton bilden. Der bekannte Philologe Stowasser zählt sie zu dem Besten, was jemals in lateinischer Zunge hervorgebracht wurde.
- "strategische Ironie": Hinsichtlich einer auf Tacitus zurückgehenden Vermutung, dass das Satyricon die Ausschweifungen am Hofe Neros indiziere, glaubt Vasily Rudich, Petronius verwende in seinem Werk gezielt eine "strategische Ironie", die es ihm in gefährlichem Umfeld erlaube, systematisch jede Haltung zugleich einzunehmen und zurückzuweisen.[4]
Hervorstechendstes Merkmal ist jedoch die Parodie gängiger Genres und Topica: das Satyricon parodiert Homers Odyssee, in der der Held Odysseus (im Satyricon: Enkolpius) vom Zorn Poseidons (im Satyricon: vom Zorn Priaps) zu Irrfahrten durch das Mittelmeer (im Satyricon: Unteritalien) getrieben wird. Parodiert werden die gängigen griechischen Liebesromane, in dem ein Paar (im Satyricon: Enkolpius und Giton) durch mancherlei Prüfungen, Versuchungen, Trennungen und oftmals nach Auflösung komplizierter Dreiecksverhälnisse, am Ende zueinanderfindet. Daneben wird in längeren Verspartien das zeitgenössische Epos parodiert, Liebesbriefe und offenbar populäre Novellenstoffe (über Hexen, Werwölfe) karikiert.
Stellenwert der Knabenliebe
Die Dichotomie heterosexuell/homosexuell war der Antike fremd. Bis weit ins 2. nachchristliche Jahrhundert galten Geschlechterpräferenzen als Geschmacksfragen. Die zu Petronius' Zeiten unter Gebildeten tonangebende stoische Philosophie problematisierte lediglich Ausschweifung und mangelnde Selbstbeherrschung. Für Freigeborene galt es als Schande, der Lust eines anderen - passiv - zu willfahren, darüberhinaus galten bestimmte Akte (besonders der passive Oralverkehr) als erniedrigend oder unschicklich.[5] Die Lust war von einer Moral durchkreuzt, in der sich soziale Hierarchien, gestisch-performative Hierarchien und eine Hierarchie der Körperregionen spiegelten.
Als unschicklich galt auch die Leidenschaft für exoleti, Jünglinge, bei denen der Bartwuchs bereits begonnen hatte. So verdächtigte man Seneca, den Zeitgenossen des Petronius, impudicus (passiv homophil) zu sein, weil er den Knaben Athleten vorzog. War für einen Sklaven die sexuelle Willfährigkeit eine unbedingte Pflicht, so blieb sie für einen Freigelassenen immerhin noch ein moralische Pflicht der Gefälligkeit.[6] Insbesondere die Trimalchio-Kapitel enthalten eine Fülle von aufschlußreichen Hinweisen zur Praxis der Knabenliebe als auch selbst päderastische Szenen. Mit der stehenden Redewendung: »Was der Herr befiehlt, ist keine Schande«, entschuldigt sich der neureiche Gastgeber dafür, der Wollust seines Herrn vierzehn Jahre lang gedient zu haben. (Satyricon, c75)
Späteren Lesern konnte die päderastische Grundkonstellation (das Liebespaar Enkolpius-Giton) nicht verborgen bleiben. Wilhelm Heinse, Freund Hölderlins und erster Übersetzer ins Deutsche, fühlte sich zu einer langen Vorrede genötigt, in der er zunächst die Knabenliebe der Antiken, die er gegen die modernen Tugendwächter und Lactanzianer (Verspotter des Sokrates) verteidigt, entschuldigt, um schließlich theatralisch zu bekunden:
»Nein! meine Matronen und Herrn! nein! nein! ich billige die Knabenliebe gar nicht! [...] Nein! ich billige die Knabenliebe gar nicht! Ich liebe das schönere Geschlecht zu sehr, als daß ich seinen Verlust dabey so gelassen mit ansehen könnte; und wer hat einen so verderbten Busen, daß er bey einer reizenden Glycerion nicht mehr Wonne des Lebens zu empfinden glauben kann, als bey einem schönen Ligurin oder Bathyll? Nur ein Schatten von der Empfindung, ein Kind der Liebe dem Staate zu geben, ist mehr, als alles, was Anakreon und Horaz und Virgil und, was die Damen betrifft, Sappho von ihrer Wollust gesungen haben. [...] Petron selbst dachte eben so, wie ich hier denke. Seine Erzählung von den Begebenheiten des Giton ist weiter nichts, als eine Satyre. Aus verschiedenen satyrischen Zügen auf die Knabenliebhaber will ich nur die Begebenheit mit der reizenden Circe anführen – Hier zeigt Petron ... was die Unmäßigkeit in der Knabenliebe für bittere Folgen habe! Die größte, höchste Wollust seines Lebens mußte Enkolpion einbüßen, weil er immer bey seinem Giton geschlafen hatte, und war nicht im Stande, eine Liebesgöttin, die ihn mit den feurigen Armen lechzender Begierden umschlang, glückseelig zu machen!«[7]
Die dem Autor unterstellten Absichten mögen zwar unzutreffend sein, weil die Verballhornung der Knabenliebe nur ein arbiträres Moment im parodistischen Gesamtkonzept des Satyricon ist. Für die Spätantike ist jedoch die Tendenz unübersehbar, die päderastische Liebe literarisch auf komische oder tragische Weise aufzulösen, um der neuen Erotik, dem "heterosexuellen" Ideal der Ehe und der Virginität, Platz zu machen.[8][9]
Giton
Kurz nach seiner Rückkehr zu Enkolpius wird Giton durch einen Amtsdiener, der ihn im Auftrag des Askyltos ausrufen läßt, folgendermaßen charakterisiert:
»Puer in balneo paulo ante aberravit, annorum circa XVI, crispus, mollis, formosus, nomine Giton« - »Ein Knabe kam kürzlich im Bad abhanden, ungefähr 16 Jahre alt, lockig, zart, schön, mit Namen Giton« (Satyricon, c97)
In der Quartilla-Szene fährt die Priap-Priesterin dem Jungen ins Gewand und bringt sein »noch so unentwickltes Gemächt« (in Gurlitts Übersetzung) zum Vorschein (Satyricon, c24) - wobei rudis unentwickelt als auch unerprobt bedeuten kann. Über die äußere Erscheinung und den körperlichen Reifegrad des Geliebten des Enkolpius können nur Vermutungen angestellt werden, ebenso bleibt sein Status rätselhaft. Obwohl er Askyltos und Enkolpius gegenüber gelegentlich in der Rolle des Sklaven erscheint, sprechen andere Belegstellen dafür, ihn für ingenuus (frei geboren) zu halten.[10][11] Auch ist er es, der in Liebesdingen zwar als wankelmütig beschrieben werden kann, die Ereignisse aber durch sein Geschick und seine Umsicht nicht selten zum Guten wendet, während der ungeschickte Enkolpius eher als passiv getriebener, klassischer Anti-Held imponiert. Die treffende Bezeichnung Lustknabe jedenfalls zielt lediglich auf seine körperlichen Reize und sein Potential als Ziel erotischer Begierde - sie impliziert nicht die Not des Strichers nach heutigen Maßstäben noch eine inferiore Position. Giton ist sich seiner Macht, die er ins Spiel bringen kann, bewußt wie kein zweiter.
Der Knabe von Pergamon
Nachwirkung und Rezeptionsgeschichte
Quellen
- ↑ Schmidt, Ernst Günther (1961). Nachwort zu: Petronius Die große Satire. Leipzig: Diederich
- ↑ Friedlaender, Ludwig (1906). Petronii, Cena Trimalchionis. Einleitung. Leipzig: S. Hirzel, S. 10f.
- ↑ vgl. Sullivan, J.P. (1981). Die antike Satire. In: Wischer, Erika (Hrsg.) Propyläen Geschichte der Literatur, Bd. 1. Berlin: Propyläen, S. 389-408
- ↑ Rudich, Vasily (1997). Dissidence and Literature under Nero. The price of rhetoricization. London/New York, p.197
- ↑ Veyne, Paul. (1992). Die beiläufige Lust der Herren. Homosexualität im antiken Rom. In Freibeuter 14. Berlin: Wagenbach, S. 16-23
- ↑ ebenda
- ↑ Vorrede zu Petronius Arbiter, Gaius: Begebenheiten des Enkolp. In: Heinse, Wilhelm (1903). Sämmtliche Werke, 2. Band, Leipzig: Insel, S. 20f.
- ↑ Müller, Fernando Suarez. (2004). Skepsis und Geschichte. Das Werk Michel Foucault im Lichte des absoluten Idealismus. Königshausen & Neumann: Würzburg, S. 285f.
- ↑ McGlathery, Daniel B. (1997). Reversals of Platonic Love in Petronius' Satyricon. In: David Henry James Lermour et al. (ed.). Rethinking Sexuality. Foucault and Classical Antiquity. Princeton University Press, p204-228.
- ↑ Heinze, Richard (1899), Petronius und der griechische Roman. Hermes 34, S.494-519
- ↑ Habermehl, Peter (2006). Petronius, Satyrica 79-141. Ein philologisch-literarischer Kommentar. Berlin/New York: de Gruyter ISBN 3-11018-533-4, S.xix