Dokument:Missbraucht - eine Mutter erkennt die Folgen der Hysterie
Der englische Text "molested - A mother discovers that the legal system's nightmarish "cure" for child sexual abuse can be worse than the disease" aus dem Jahr 1997 stammt von einer anonymen Mutter, die eindrucksvoll beschreibt, was ihre Familie nach der Aufdeckung sexueller Handlungen der beiden Söhne durchmachen musste.
Quelle
Er wurde am 28.02.1997 auf salon.com in drei Teilen veröffentlicht:
- Seite 1: A mother discovers that the legal system's nightmarish "cure" for child sexual abuse can be worse than the disease
- Seite 2: My son in prison
- Seite 3: Damned in the eyes of the world
Im Jungsforum ist er in diesem Beitrag veröffentlicht:
Missbraucht
Eine Mutter erkennt dass die alptraumhafte "Heilung" von sexuellem Missbrauch durch das Rechtssystem schlimmer sein kann als die Tat
Jeden Mittwochnachmittag suche ich mir einen Platz in einem fensterlosen Kellerraum, in einem Kreis von 25 Leuten. Die Sitze sind aus Metall, hart und kalt, und das Unbehagen weit mehr als nur physisch. Es sind acht männliche Jugendliche und zwei Therapeuten, und der Rest sind Eltern und Großeltern. Wir sind verwirrt, wir sind deprimiert und wir alle sind für Monate in diesen Raum gesteckt. Ich bin schon Stunden vorher krank und einen Tag oder mehr danach unfähig in Ruhe zu schlafen, zu essen oder mich ungezwungen zu unterhalten. Diese Jungen, darunter mein Sohn, sind Sexualstraftäter. Wir, ihre Eltern, haben uns an Verbrechen mitschuldig gemacht, die schwer zu erklären oder zu definieren sind. Kürzlich fragte ich meinen 14jährigen Sohn, was er aus den schmerzvollen Ereignissen des letzten Jahres gelernt hat, und er sagte »Ich habe gelernt, dass Sex schlecht ist. Ich möchte nicht mehr daran denken.«
Vor einigen Monaten rief mich ein Schul-Psychologe bei der Arbeit an und meinte, er müsse sofort mit mir reden. Als er in meinem Büro ankam, war ich auf auf das Schlimmste gefaßt, auf eine Verletzung, das Unerträgliche. Was er mir sagte, war noch unerwarteter als ein plötzlicher Todesfall: mein Sohn habe gestanden, unseren anderen Sohn, der einige Jahre jünger ist, missbraucht zu haben. In der Sprache des Sexuellen Missbrauchs hatte er sich »geöffnet«, hatte langsam angefangen, Details zu enthüllen und sich selbst zu geißeln. In diesem Moment begann meine anhaltende Übelkeit, wie ein Rückwärtssalto, den ich nicht kontrollieren kann. Ich schwanke von Gefühl zu Gefühl ohne Vorwarnung, ich schwanke zwischen Wut auf meinen Sohn und Zorn auf den Schaden, den sogenannte gute Absichten angerichtet haben.
Am Tag nachdem wir es erfahren hatten, kam die Polizei ohne Vorwarnung zu seiner Schule und verhaftete ihn. Ich kam gerade an, als sie ihn fortbrachten, einen kleingewordenen Jungen, der hinter zwei blau uniformierten bewaffneten Männern saß. Und alles, was seither passierte, war wie ein immer stumpferes und dreckigeres Messer, das sich in eine eine immer tiefere und üblere Wunde bohrt.
Mein Sohn im Gefängnis
Er wurde für 3 Wochen eingesperrt. Ich besuchte ihn am ersten Abend, wie erfroren vom Schock, und hatte, wie ich dachte, für einige Zeit genug geweint. Ich brachte ihm das Buch, das er gerade las. Ich drückte auf Türöffner und Sprechanlagen, wartete hinter verschlossenen Türen, sprach durch dicke Glasscheiben mit schroffen, abgelenkten Wärtern. Das Buch wurde abgelehnt, ohne Begründung, und die Tränen kamen erneut -- und ich habe seitdem erkannt, dass meine Tränen nur dazu taugen, Türen zu schließen und Gesichtszüge zu verhärten. Als ich mich beruhigt hatte, durfte ich 20 Minuten mit ihm sprechen.
Er kam herein in verwaschenen, schlecht sitzenden Arbeitsklamotten, blass und beschämt, und wir drängten uns in einen überfüllten Raum voller anderer Eltern und anderer Jungen, einige von ihnen laut und sich brüstend, andere leise und verschlossen. Ich besuchte ihn an jedem Tag, an dem es mir erlaubt war – was nicht an jedem Tag war – und jedes Mal mußte er sich einer Leibesvisitation unterziehen nachdem ich gegangen war. Er erzählte mir von den anderen Jungen, von den Drive-by-Schießereien, Vergewaltigungen und Einbrüchen, mit denen sie angaben. Er erzählte mir von Partydrogen, von denen ich noch nie gehört hatte. Er beschrieb mir einige nicht jugendfreie Filme, die er in Gefangenschaft gesehen hatte, brutale Filme, die ich ihm nicht erlaubt hätte, da er so jung war. Er beschrieb stundenlange psychiatrische Untersuchungen, Bluttests, Vernehmungen. Er beschwerte sich über das Essen und die Langeweile, sorgte sich wegen des verpaßten Unterrichts, er sprach über alles, außer über das was geschehen war, seine Anwälte und die kommenden Termine.
Auch ich sprach mit Anwälten. Ich stellte große Schecks aus. Keiner fragte nach dem Jüngeren, dem Opfer. Zwei bewaffnete Uniformierte hatten ihn am ersten Tag gefragt, ob die Geschichte wahr sei. Danach erwähnte ihn niemand mehr. Niemand schlug eine ärztliche Untersuchung oder ein Gespräch mit einem Psychologen vor. Niemand befragte meinen Mann oder mich, niemand besuchte unser Haus. Also kümmerte ich mich um einen Anwalt für uns, und ich brachte meinen anderen Sohn zum Arzt – der keine körperlichen Anzeichen für einen Missbrauch entdeckte – und zu einem Psychologen. Wir sprachen nie mit dem Staatsanwalt, der in dem Fall ermittelte.
Mein älterer Sohn blieb in Haft. Erst ein, dann zwei Haftprüfungstermine wurden angesetzt und abrupt ohne Begründung abgesagt. Ich verlor den Überblick in dem unzuverlässigen Gewirr von Nachrichten auf dem Anrufbeantworter, verlorenen und unbeantworteten Mitteilungen und wechselnden Zuständigkeiten. Ich wurde nervös und paranoid, blickte aus dem Fenster zu jedem Auto, das in der Nähe unseres Hauses langsamer wurde, auf das klingelnde Telefon, auf die Türklingel – und fragte mich, ob Männer mit Waffen und blauen Uniformen unangekündigt wegen unseres anderen Sohnes auftauchen würden, um auch ihn mitzunehmen. Ich wußte nicht, was ich tun sollte, oder wen ich fragen sollte. Ich hatte Angst, es irgendeinem meiner Freunde zu erzählen. Wir saßen im Flur des Gerichtsgebäudes vor der dritten Termin und waren erfüllt von blankem Grauen. Ich hatte die Empfangsdame in der Lobby gefragt, was wir zu erwarten hätten. Sie sah auf eine Liste, fand den Namen meines Sohnes und den Begriff »widernatürliche Unzucht« (sodomy) und meinte beiläufig, »Er wird wohl für einige Jahre eingesperrt werden, das ist typisch«. Der Jugendgerichtshelfer kam aus seinem Büro, wandte sich zu mir und meinte, dass auch dieser Termin abgesagt worden sei. Der Staatsanwalt habe einen anderen Termin. Ich fing an zu weinen. Mein Mann saß regungslos und stumm da.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, flüsterte ich. »Sagen sie mir, was ich tun soll.« Er machte auf dem Absatz kehrt und ging davon. »Ich kann nicht mit Ihnen sprechen, wenn sie weinen«, sagte er.
Verdammt in den Augen der Welt
Die Einzelheiten dessen, was meine beide Söhne zusammen gemacht haben, sind dem nicht unähnlich, was ich vor vielen Jahren aus verstohlener Neugier mit meinem Bruder ausprobiert habe. Aber für viele Leute ist dies nur ein weiterer Beweis dafür, dass ich untauglich bin, die Situation angemessen zu bewerten. Von Anfang an äußerten verschiedene Leute die Überzeugung, ich »müsse« ein Opfer verdrängten sexuellen Missbrauchs sein. Warum? Weil ich mich entschlossen hatte, für meinen Sohn zu kämpfen, anstatt ihn zur Gänze zu verstoßen. Weil ich weiterhin seine Mutter bleiben wollte. Weil ich gegen die endlosen »Enthüllungen« protestierte. Weil ich sagte, das Gerichtsverfahren sei schädlich. In dieser speziellen Welt ist keine Zweideutigkeit erlaubt. Man ist entweder auf der Seite des Opfers oder auf der Seite des Täters, es gibt kein Dazwischen. Etwas in Frage zu stellen heißt, zum Verräter zu werden.
Zwischen meinen beiden Söhnen gab es Küsse, gab es Berührungen, gab es oralen Kontakt (»widernatürliche Unzucht«). Es gab jede Menge Blicke. Es gab keine Penetration, keine Gewalt, keine Drohungen. Sie sind vom Alter her einige Jahre auseinander und die Kontakte fanden während einiger Wochen statt. Mein jüngster Sohn gestand unter Tränen, dass er es genossen hatte und es ihm Leid tut, dass er seinen Bruder in Schwierigkeiten gebracht hatte. Ich habe mich schließlich im vergangenen Jahr einigen Freunden anvertraut, und alle haben mich gebeten, als ob ich es wüßte, den Unterschied zwischen kindlichen Sex-Spielen und Missbrauch zu erläutern. »Gott, mein Bruder und ich haben viel mehr angestellt als ›das‹«, sagte ein Freund und fuhr fort, es zu beschreiben. »Was soll die ganze Aufregung?« fragte ein anderer. »Was für ein Pech, dass ihr nicht in Europa lebt« sagte ein weitgereister Freund voller Anteilnahme.
Ich weiß nicht, ob ich mich bestätigt fühle oder nicht – weil ich noch immer nicht weiß, was ich im Blick auf das, was geschehen ist, empfinde, was ich als Mutter wirklich empfinde, außerhalb des kafkaesken Rechtssystems. Die Jungs sind in meinen Augen zu viele Jahre auseinander, als dass es einfach kindliche Sex-Spiele sind. Es dauerte zu lange an, über Wochen. Ich bin nicht sicher, dass es Missbrauch war, ich bin gewiß nicht sicher, dass es ein Verbrechen war, aber ebensowenig bin ich sicher, wie ich es bezeichnen würde. Ich wünsche mir inbrünstig, dass es niemals passiert wäre, aber ich bin nicht überzeugt, dass es das schlimmste ist, das hätte passieren können, dass es auch nur annähernd so furchtbar ist, wie einige Leute denken.
Ich könnte diese Zweifel nicht der Mittwochnachmittags-Gruppe, dem Richter oder irgendjemandem sonst gegenüber zum Ausdruck bringen, ohne meine Familie zu gefährden. Obwohl ich insgeheim überzeugt bin, dass die Heilung weitaus schädlicher war als die Tat, passe ich auf, dies nicht laut auszusprechen. Ich weiß, dass dann die Hälfte der Menschen, die im »Bereich des Sexuellen Kindesmissbrauchs«, wie sie es nennen, arbeiten, überzeugt wären, dass ich entweder ein Opfer, eine Täterin oder beides wäre.
Jeder der Jungen in unserem Therapieprogramm muss "offenbaren", immer wieder, vor uns allen. Das öffentliche Beichten wird als mehr als nur ein Wohl angesehen – es gilt als notwendig für Heilung, als Zeichen von Verantwortung, für die Bereitschaft, die eigenen Verbrechen auf sich zu nehmen. Bestimmte Geschichten sind kaum zu ertragen; sie sind voll von Zwang, Täuschung und Verleugnung. Diese Jungen, mit ihren Pickeln, spärlichem Bartwuchs und Babyspeck, sind alle unterschiedlich, und einige sind zu heftigen Dingen fähig. Ich verstehe, warum der Junge, der vergewaltigt hat, hier ist, ich verstehe, warum der Junge, der ein Baby penetriert hat, hier ist. Ich bin nicht sicher, warum der Junge, der die Genitalien seiner Schwester einmal berührt hat, an einem einzigen Nachmittag, hier ist – aber ich erkenne, dass sie alle über einen Kamm geschoren werden. In den Augen der Öffentlichkeit sind sie jetzt alle Kinderschänder, und dies ist eine unverzeihliche Sünde, ein unwiderrufliches Stigma.
Ich habe jetzt viel über Inzest gelesen. Ich habe über spontan zurückkehrende Erinnerungen, Rollenspiele und Hypnose-Therapie gelesen. Ich habe von Inzest-Fantasien gelesen und dem »Inzest-Komplex«, all diesen Gefühlen, die genau den Empfindungen gleichen, die durch Inzest verursacht werden, selbst wenn nichts dergleichen tatsächlich geschehen ist. Noch häufiger habe ich jüngst über Menschen gelesen, deren Leben nicht durch Missbrauch sondern durch die Angst davor zerstört wurde, durch schwankende und unbeweisbare Anschuldigungen. Ich frage mich, woher das bloß kommt – was zur Hölle geht um mich herum vor – wenn beim Thema Sex anscheinend den Verstand verloren haben. Da gibt es einen Leserbrief in der Lokalzeitung, der sich über eine Kunstausstellung beschwert, in der Kondome als Material verwendet werden: »Kein Wunder, dass unsere Frauen und Kinder auf der Straße nicht sicher sind.« Ich gerate in eine Diskussion über Todesstrafe mit einer Freundin von mir, die meine beiden Kinder liebt und nichts davon weiß, was uns im letzten Jahr widerfahren ist. »Aber natürlich, einige Leute sollten sterben«, sagt sie mit großer Schärfe. »Kinderschänder sollten sterben, meinst du nicht?«
Vielleicht weiß ich gar nichts mehr. Mein Leben ist aus den Fugen geraten. Über Monate hinweg bin ich nachts aufgewacht und fühlte mich in einen Sumpf aus Schuld und Scham sinken, während ich mich fragte, wie wir es nicht bemerkt haben können, wie es hier im Haus geschehen konnte, während wir nichts vermuteten. Mein Mann ist beinahe gelähmt von Gewissensbissen, überzeugt, irgendwie müsse seine harmlose und gut versteckte Sammlung von Bildern nackter Frauen Schuld sein. Wir scheinen unfähig, auch nur in Gedanken noch miteinander zu schlafen. Keiner von uns weiß, wie wir nun mit unseren Kindern reden sollen. Ich finde die richtige Balance nicht zwischen Herunterspielen und Verschlimmern des Schmerzes, Anfachen oder Verstecken von Angst und Scham.
Zur Therapie unseres Sohnes gehört mehr als die Mittwochsgruppe. Es gibt Lügendetektoren und psychologische Tests und Fragebögen. Er macht eine Gruppentherapie mit Gleichaltrigen, wo er ein neues Vokabular lernt. Er spricht spontan vom »sich Vergehen« (offending) an Menschen, in einer völlig neuen Weise, als der Ausdruck üblicherweise gemeint ist. Er hört von »Verantwortung übernehmen« und »Wiedergutmachung« und »kognitiven Verzerrungen«. Meine eigene Aufmerksamkeit gilt den Mittwochen, wenn die anderen Eltern manchmal die gleichen Sorgen, die gleichen Beschämungen stammeln. (»Wie konnten wir das nicht bemerken?«) Ein Vater gibt der Rap-Musik-Sammlung seines Sohnes Schuld. Eine Großmutter beklagt sich über die »Sex-Seuche« im Fernsehen. Alle Jungen stammen aus heterosexuellen Familien, alle Fälle außer unserem beinhalten heterosexuellen Missbrauch, aber ein Elternteil beharrt trotzdem, die Ursache sei »Homosexualität«.
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Nachdem er drei Wochen in Gefangenschaft verbracht hatte, hatten wir eine Verhandlung über die Frage der Haft, an der Sozialarbeiter, ein Psychiater und eine Schar Anwälte teilnahmen, die in unserem Interesse argumentierten. Mit ihrer Hilfe wurde es unserem Sohn gestattet, nach Hause zurückzukehren. Drei Monate später hatten wir den Strafprozess über die strafrechtlichen Anklagepunkte, die schweren Verbrechen [felony charges], die niemals aus seiner Akte getilgt werden können, die ihn für den Rest seines Lebens verfolgen werden. Verschiedene Anwälte hatten uns vor dem Bezirksstaatsanwalt gewarnt. "Der ist besessen auf Sex-Anklagen", erzählte uns einer.
Wir wurden ihm nie überhaupt vorgestellt. Wir waren nicht befragt worden. Er wußte nichts über unsere Werdegänge, Ausbildungen, Berufe, unsere Anschauung von Kindeserziehung [philosophy of parenting], religiösen Überzeugungen oder Lebensstil. Nichts davon wurde als relevant befunden. Bei der Verhandlung war er vehement, emotional, persönlich. Er sprach leidenschaftlich zum Richter über unsere "Loyalitätskonflikte", dass unser Bemühen, die Fürsorge über das eine Kind wiederzuerlangen, deutlich mache, dass wir nicht für das andere sorgen könnten. Ich saß da in Schock und Unglauben (ja, so spät erst) da und kritzelte Anmerkungen für unseren eigenen Anwalt, wobei ich das Papier mit der Bleistiftspitze zerriss. "Das", sagte der Staatsanwalt, und zeigte auf mich, "ist eine Mutter, die das Opfer beschuldigt."
Wie um alles in der Welt bewältigen das andere Familien, fragte ich mich verständnislos? Wie bewältigen das die anderen Leute, die die Vorhalle füllen? Die alleinerziehenden Mütter mit Kleinkindern, die weniger Begabten und schlechter Ausgebildeten, diejenigen ohne Sparguthaben, um Anwälte zu bezahlen? Die anderen Eltern scheinen resigniert wegen langer Wartezeiten und Durcheinander; sie scheinen ihr Selbstbewusstsein schon lange zuvor aufgebraucht zu haben.
Unser Sohn wurde zu time served verurteilt [einer Haftstrafe in Höhe der bereits verbüßten Untersuchungshaft], zu eng überwachter Bewährung bis zu seinem 18. Lebensjahr, und zu zwei Jahren Therapie. Er wurde düster davor gewarnt, was passieren würde, sollte er auch nur irgendeinen Fehler machen. Der Staatsanwalt schwor, in Berufung zu gehen, ein Schwur, den er gehalten hat, und so warten wir immer noch auf unsere letzte Runde vor Gericht.
"Danke, Euer Ehren", murmelte unser Sohn, als ihn sein Anwalt anstupste.
"Danke", sagte ich.
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Alles hat sich verändert. Unsere Familie scheint die gleiche zu sein. Nur ein paar Menschen wissen, was geschehen ist. Aber wir sind verletzt und verloren, und diese Stadt, in der zu leben ich liebte, fühlt sich mir jetzt verdorben an. Das Opfer wurde zuletzt beachtet und befindet sich auch in Therapie -- nicht in einer Gruppe oder bei einem Therapeuten unserer Wahl, sondern bei einem vom Gericht bestellten. Er wurde immer und immer wieder befragt, und hat keine neuen Erinnerungen, keine neuen Enthüllungen, keine neuen Details angeführt. Er sorgt sich offen darüber, er könne "fortgebracht" werden. Hat ihm das geholfen, dieses Enthüllen, dieses Chaos? Ich habe das schreckliche Wissen, dass er sich dauerhaft verändert hat.
Er glaubt jetzt, tief in sich, dass seine Freude am Berührtwerden ansich schlecht war, dass weil diese Berührung verboten war, er selber böse ist, dass die Zerrüttungen und Erschütterungen des letzten Jahres irgendwie seine Schuld sind, die Schuld seiner Entdeckung von Genuss. Es spielt keine Rolle, wie oft wir oder irgendjemand ihm anderes sagen. Jetzt fürchte ich mich davor, ihn zu streicheln, fürchte mich davor, nachts ins Bad zu gehen, da er aufwachen und mich halb-bekleidet sehen könnte, ich fürchte mich davor, ihn zuzudecken und zu küssen, wenn er schläft, damit er nicht eine träumerische Erinnerung daran hat, im Bett berührt worden zu sein. Er wurde mittlerweile immer wieder von vielen Fremden gefragt, ob sein Vater oder seine Mutter jemals eine "schlechte Berührung" gemacht hätten. Er wacht am Wochenende auf, rennt in unser Zimmer und springt ins Bett zum kuscheln wie er es immer tat, doch wir weichen zurück, aus Angst.
Ich fürchte mich nicht vor unserem älteren Sohn. Auch er wurde mit großem Umfang und Aufwand untersucht und herumgestoßen und befragt und getestet. Er zeigt keine Anzeichen eines Zwangs oder übergriffig zu sein [predatory], es gibt keine Zeichen für irgendwas außer tiefsitzender Scham und Gewissensbisse, und dem Bedürfnis, seine erwachende Sexualität zu unterdrücken. Ich soll ihn natürlich fürchten. Aber was ich fürchte ist das undurchdringliche Schwachsinns-System, das vielarmige und strafende System, dass alle von uns als die gleiche Art von Monster behandelt. Ich fürchte mich vor unzuverlässigen Erinnerungen, vor langen Blicken und Fangfragen. Ich weiß, dass ich jetzt lügen würde, um meine Kinder zu schützen. Ich würde alles sagen, damit sie nicht aus meiner Fürsorge weggenommen werden. Meineid ist nichts im Gegensatz zum Verlust unserer Beziehung.
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"Sexualverbrecher können nicht geheilt werden", lese ich. "Opfer sexuellen Missbrauchs sind für immer geschädigt." Die Welt der Therapie kultiviert diese dunkle Vision, genießt die Vorstellung tödlicher Wunden und permanenter Verbrechen sowie immer versteckter Details, die es noch aufzudecken gilt. Ich beobachte die Jungen in meiner Mittwochnachmittag-Gruppe, ihre verlorenen, verwirrten Blicke, ihre Anstrengungen, einen Ausweg zu finden, ihre unwirksamen Versuche, zu verbergen und zu leugnen. Manchmal fühle ich mich abgestoßen, entsetzt von den Bildern, die einige von ihnen beschreiben, entsetzt auch vom wollüstigen Eifer der Therapeuten, Details herauszulocken.
"Was noch, Kevin? Wofür kamst du noch in Schwierigkeiten?" Und Kevin blickt angespannt zur Seite. Schließlich flüstert er "Ich hatte schmutzige Bücher." "Ganz recht, Kevin." nickt der Therapeut. Er ist zufrieden. Ich behalte mein sorgfältiges Pokergesicht. Glaubt er ernsthaft, dies sei eine Antwort auf das Puzzle dessen, wie wir dazu kamen, hier zu sein?
Es gibt Regeln in dieser speziellen Welt. Gebote. Das Oberste ist, dass ein Opfer immer die Wahrheit erzählt, mit einer Ausnahme. Wenn ein Opfer die selbe Geschichte wie der Täter erzählt, dann liegt das Opfer falsch -- denn ebenfalls oberstes Gebot ist, dass ein Täter immer lügt. Über viele Monate hinweg wurden wir vorgewarnt, noch mehr zu erwarten -- mehr Geständnisse, mehr Enthüllungen, mehr Details, mehr Opfer, wir sollten die Tatsache akzeptieren, dass er dabei sein muss, etwas zurückzuhalten. Kein Geständnis wird je als vollständig angesehen. Mit jeder Wiederholung dessen, was schon gesagt wurde, hält man die Jungs dazu an, uns noch ein bißchen mehr zu geben.
"Geheimnisse sind böse." So sagen die Therapeuten. "Geheimnisse verletzen Menschen." Unser Sohn erzählt auf Anordnung die gleiche Geschichte immer wieder, einem Fremden nach dem anderen. Über einige Monate hat sich nichts geändert, nichts Neues ist zum Vorschein gekommen. Aus diesem Grund wird er als widerspenstiger als die anderen Jungen angesehen, "erstarrt" in seiner Verleugnung. Weil ich ihm glaube, bin ich ebenso in Verleugnung. Schließlich wird er in einer privaten Sitzung in quälenden Details durch seine Geschichte geführt: Was hatte er an, was hatte sein Bruder an, was wurde gesprochen, wann hat er seine Hose ausgezogen, was ist dann passiert, und dann, und dann. Wie hat das Gesicht seines Bruders ausgesehen? Was denkt er, hat sein Bruder dabei gedacht? Und dann bringt ihn die junge, attraktive Therapeutin dazu, ihr -- und uns, die es nicht wissen wollen -- von seinen sexuellen Fantasien zu erzählen, wie oft er masturbiert, ob er dabei ejakuliert, was er denkt, wenn er sich selbst befriedigt. Er starrt auf den Boden und flüstert seine Antworten. Und ich bin schockiert. Was ist geschehen, möchte ich schreien. Was ist ihm zugestoßen?
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Ein verurteilter Kinderschänder kommt an einem Mittwoch, um zu uns zu sprechen. Er ist 32 Jahre alt. Er war Lehrer und erzählt uns, er habe Dutzende Opfer gehabt. "Kinder liebten mich", sagt er einfach.
Es ist etwas komisches an ihm, die Art, wie er sich gibt, die Röte in seinem Gesicht als er erzählt. Ab und zu weint er, beschreibt die Trauer seiner eigenen Eltern, seine Zeit im Knast, seine Selbstmordgedanken. Dieser Zwang, Kinder zu berühren, verfolgt ihn, zieht ständig in seine Gedanken. Seine Ehrlichkeit ist wie ein Schlag, wie ein plötzlicher Nadelstich, und ich bemerke, dass ich etwas Angst vor ihm habe.
Er schaut die jugendlichen Knaben im Raum an. "Ihr seid alle etwa im Alter meiner Opfer", sagt er. Die Jungen scharren mit den Füßen und blicken zu Boden. Ich bin froh, dass er nicht mein Nachbar ist. Ich würde mich um meine beiden Kinder sorgen.
In einer anderen Woche besucht uns ein männlicher Therapeut, der mit erwachsenen Missbrauchsopferinnen arbeitet und spielt eine Stunde lang ein Spiel mit allen Leuten im Raum, eine emotionale Manipulation, die dazu gedacht ist, dass wir uns alle wie Opfer fühlen. Ohne Kontrolle zu sein. Ich denke, ich kenne dieses Gefühl bereits, und seine Freude ob unseres Unbehagens wirkt sadistisch. Wenn eine der Mütter unter seinem düsteren Gemurmel über den lebenslangen Albtraum des Opfers zusammenbricht und zu weinen anfängt und ihn anfleht, ihr ein wenig Hoffnung zu geben, lehnt er ab. Er benimmt sich grüblerisch, sanft, spielerisch.
"Ich lade euch ein", sagt er mit einer Handbewegung durch den Raum, "diesen Jungen die Schuld dafür zu geben, wie ihr euch fühlt. Bringt sie dazu, das volle Ausmaß der Verantwortung zu übernehmen."
So habe ich eine weitere Regel gelernt. Ich sollte meinem Sohn meine ganze Wut geben. Ich soll diese unbändige Wut auf ihn richten -- Wut wegen der Angst, dem Schuldgefühl, dem Verlust der Privatsphäre, der Bloßstellung und der Verzweiflung. Es ist seine Schuld, und ich darf ihm nicht vergeben. Es spielt keine Rolle, dass er auch ein Kind ist, dass er noch nicht voll entwickelt ist, dass seine Zukunft auf dem Spiel steht. Ich glaube nicht, dass es sein Fehler ist, dass dieses System so grausam ist, die Therapie so oberflächlich, die Philosophie so geistlos. Aber er ist der einzige, den ich verantwortlich machen darf. Ich habe Gefühle, die ich kaum überblicken kann, Wellen von Schmerz, Scham, Schuld und Verzweiflung vor denen ich zurückschrecke wie ein Pferd vor einer Schlangengrube. Ich habe Träume am Rande der Wahrnehmung, an die ich mich nicht erinnere, nicht erinnern will. Ich soll all dies auf einen Jungen abwälzen, dem es nicht gestattet ist, irgendeine Güte mehr in sich zu haben.
"Und was geschah dann, Philip?" fragt eine Therapeutin in einer sanften murmelnden Stimme. Philip flüstert zurück "Ich habe ihre Vagina berührt." Und die Therapeutin lächelt langsam und sagt "Jaaaaa. Ja, das ist es, Philip." So klingen die Stimmen von Liebenden. Durch die ständige Wiederholung rufen die Therapeuten und Anwälte die Geschichte an die Oberfläche, bauschen sie auf, machen die Geständnisse zu Fantasien, die Details zum Gewebe eines Märchens.
Ich schreibe einer Freundin mit mehreren Kindern: "Wenn dies jemals in deiner Familie geschieht, dann erzähle es niemanden, erzähle es keinem Lehrer oder Kindermädchen oder Berater. Lass sie nicht in dein Haus. Ihr könnt das allein bewältigen, wie wir es gekonnt hätten -- aber das hier können wir nicht bewältigen."
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Jeder Versuch von mir, das Geschehene in einen sozialen Kontext zu stellen, einen Kontext menschlicher Sexualität und Beziehung, wird verhindert. Jedem Versuch von mir, die innewohnende sexuelle Natur von Jugendlichen zu diskutieren, wird mit Unbehagen und Ausweichen begegnet. Echter Sex wird hier nie erwähnt. Sexuelle Neugier, sexueller Genuss ist irrelevant. Wie können sie ohne unsere Hilfe den Weg durch den Irrgarten finden? Ich weiß nicht, warum eines meiner Kinder zu der Überzeugung kam, er habe das Recht, den Körper von jemandem, der etliche Jahre jünger ist, zu benutzen. Ich weiß nicht, warum mein kleiner Junge nichts erzählt hat, nach all den Jahren, in denen ihm beigebracht wurde, etwas zu erzählen, Nein zu sagen. Aber die Erklärungen, die ich bekomme, sind intellektuell wertlos und durchsetzt mit Anschuldigungen.
Die Ursprünge von Missbrauch, jeder Art von Missbrauch, sind komplex und unklar. Die bloße Definition von Missbrauch ist es auch. Wir kommen Mittwoch abend heim, ausgelaugt, und mein Sohn bricht mit einer Zeitschrift auf der Couch zusammen. Ich blicke über seine Schulter und sehe eine Modewerbung, das Model ist ein halbnacktes Mädchen mit feuchten Lippen, lockend und verführerisch. In einer Welt von Erotik und unterdrückter Sexualität würde ich nicht von einfachen Erklärungen für sexuelles Verhalten irgendeiner Art träumen.
An einem Mittwoch teilen wir uns in zwei Gruppen, Jungen und Eltern, und gehen in unterschiedliche Räume. Einer nach dem anderen beschreiben die Erwachsenen ihre speziellen Ängste, und schließlich höre ich Wut, wie meine eigene, ein starkes Bedürfnis zu erfahren, warum diese schwere Sache so viel schwerer gemacht wurde. Ein Paar beschreibt die nächtlichen Telefonanrufe, die Schmähungen und Beleidigungen, die sie veranlaßt haben, wegzuziehen und den Beruf zu wechseln. Ein anderes sagt, der/die Lehrer/in ihres Sohnes hat dem ganzen Lehrerkollegium der Schule erzählt, was passierte. Ein Mann sagt, sowohl er als auch sein Sohn haben Morddrohungen erhalten. Die Leute sprechen von andauernder Depression, gebrochenen Ehen, Zurückweisung durch ihre eigenen Eltern und Familien. Einige Jungen sind über Monate, sogar Jahre bei Pflegeeltern gewesen, während ihre Eltern darum kämpften, sie zurückzubekommen.
"Bin ich die einzige, die paranoid ist?" fragt eine junge Mutter. "Ich lasse meine anderen Kinder jetzt nie mehr aus den Augen."
"Ich sag euch eins", meint ein älterer Mann, der selten spricht. "Meine Frau starb bei einem Autounfall. Das hier war schlimmer."
Was ich wünsche ist, dass ich irgendwie einen Weg finden könnte, diesen Jungen zu sagen, dass sie eine Zukunft haben. Manchmal frage ich mich, ob sie die haben, ob ihnen Erlösung gewährt wird, oder ob sie schlicht durchs Leben in den Lagern sozialer Ausgrenzung gehen werden, unsere neuen Aussätzigen. Was mich angeht, so hoffe ich durch Selbstreflektion Erlösung zu finden, durch mein nach vorn- und hindurch- und über-dies-hinausgehen, und dabei meine beiden Kinder und meine Ehe mitherüberzubringen. Wir planen umzuziehen, Nachbarschaft, Schulen, unsere Leben zu ändern. Und wenn noch ein weiterer bezahlter Experte zu mir sagen sollte, während ich am Mittwoch-Nachmittag auf meinem kalten, harten Stuhl zittere, "Ich weiß, was sie fühlen", so schwöre ich, werde ich ihn abwürgen. Ich werde ihn mit aller Kraft anbrüllen: Sie wissen es nicht. Sie nicht. Sie nicht.
28. Feburar 1997